Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
Auseinanderklaffen setzt erst 1956 ein. Noch die marxistischen Parteien der Zweiten Internationale vor 1914 hatten, obwohl sie sich bemühten, ein orthodoxes Verständnis der Marx’schen Lehre zu entwickeln, das gleichermaßen gegen die »revisionistische« Herausforderung von rechts wie gegen die anarcho-syndikalistischen Tendenzen von links bestehen konnte, eine Vielzahl von Interpretationen akzeptiert; sie wären auch kaum in der Lage gewesen, die Pluralität zu unterbinden, selbst wenn sie gewollt hätten. Niemandem in der SPD kam es 1913 merkwürdig vor, dass der Erzrevisionist Bernstein den Briefwechsel von Marx und Engels herausgeben sollte, auch wenn Lenin später Bernsteins redaktionellen Entscheidungen »Opportunismus« vorwarf. Sozialdemokratischer und kommunistischer Marxismus führten in den 1920er Jahren eine Koexistenz, allerdings sorgte die Gründung des Marx-Engels-Instituts für eine zunehmende Verschiebung des Zentrums, wenn es um die Publikation der Klassikertexte ging, auf die kommunistische Seite. Beiläufig sei bemerkt, dass es dort verblieb. Ungeachtet der Bemühungen seit den 1960er Jahren, von klassischen Werken Konkurrenzausgaben zu publizieren (auf Initiative beispielsweise von Maximilien Rubel in Frankreich oder Benedikt Kautsky in Deutschland), blieben die Standardeditionen, ohne die keine der anderen Ausgaben denkbar gewesen wäre, die zahlreichen Übersetzungen eingeschlossen, diejenigen aus Moskau (und, nach dem Zweiten Weltkrieg, aus Ost-Berlin): die erste und zweite MEGA sowie die MEW. Nach 1933 schließlich stand die übergroße Mehrheit der Marxisten innerhalb und außerhalb der UdSSR letztlich in Verbindung mit den kommunistischen Parteien, während die verschiedenen Schismatiker und Häretiker der kommunistischen Bewegung eine nur unbedeutende Zahl an Unterstützern anzogen. In den sozialdemokratischen Parteien – sieht man davon ab, dass diese Parteien in Deutschland und Österreich nach 1933/34 praktisch zerstört waren – entwickelte sich der Marxismus in immer stärker verdünnter Form und in kritischer Abgrenzung zur Klassikerorthodoxie. Nach 1945 verstanden sich diese Parteien bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr als marxistisch, außer vielleicht in einem historischen Sinn. Nur rückblickend und angesichts des marxistischen Pluralismus der 1960er und 1970er Jahre war der pluralistische Charakter der marxistischen Literatur der Zwischenkriegszeit zu erkennen; es bedurfte systematischer Anstrengungen, die vor allem in Deutschland seit Mitte der 1960er Jahre unternommen wurden, die Schriften jener Zeit erstmals oder neuerlich zu publizieren.
Etwas mehr als ein Vierteljahrhundert lang gab es somit keinen inhaltlichen Unterschied zwischen dem Marxismus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und dem anderer kommunistischer Parteien (also quantitativ betrachtet dem Großteil des Marxismus); zumindest war es nicht möglich, solche Differenzen offen auszutragen. Diese Situation veränderte sich zunächst allmählich, doch dann mit zunehmender Geschwindigkeit nach 1956. Nicht nur, dass die eine doktrinäre Orthodoxie sich in mindestens zwei teilte, wie es mit dem Bruch zwischen der UdSSR und China geschah: Die nicht mit dem Staat identischen kommunistischen Parteien des Westens waren zunehmend mit der Konkurrenz rivalisierender marxistischer Gruppierungen konfrontiert, die beträchtliche Unterstützung vor allem von Intellektuellen erfuhren, das heißt von Lesern der Marx’schen Texte; innerhalb verschiedener westlicher Parteien entwickelte sich daraufhin eine beachtliche Freiheit der internen theoretischen Auseinandersetzung, zumindest im Hinblick auf Fragen der Marx’schen Lehre. Es entstand somit eine markante Kluft zwischen den Ländern, in denen der Marxismus die offizielle und eng mit dem Staat verknüpfte Doktrin blieb und in denen es jederzeit und zu jeder Frage eine verbindliche Auffassung darüber gab, was »der Marxismus lehrt«, und Ländern, in denen das nicht länger der Fall war. Einen brauchbaren Maßstab für diese Kluft bietet der jeweilige Umgang mit der Biographie der Klassiker. In den Ländern der ersten Kategorie blieb dieser Umgang entweder vollkommen hagiographisch oder zeigte zumindest eine gewisse Scheu, Aspekte jener Biographien anzusprechen, die sie in einem weniger vorteilhaften Licht erscheinen ließen. (Eine solche Haltung war indes nicht neu: Deutlich wahrnehmbar war sie etwa vor 1914 in Deutschland, in der Frühzeit orthodoxer
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