Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
haben schien.
Es überrascht nicht wirklich, dass die Selbstsicherheit und (wie in Frankreich) die polemischen Simplifizierungen der fortschrittlich gesinnten Geschichtsmodernisierer Angriffsflächen für Kritik boten. Um ein bekanntes Beispiel zu geben: Die Vernachlässigung dessen, was die Franzosen abschätzig als »Ereignisgeschichte« bezeichneten und die Marxisten als »die Rolle des Einzelnen in der Geschichte« abtaten, hatte zur Folge, dass eine angemessene Geschichte von Hitlers Deutschland oder Stalins Sowjetunion noch nicht geschrieben werden konnte. 5 Doch irgendwann ab Anfang oder Mitte der 1970er Jahre finden wir mehr als nur das. Offenkundig wurde eine neue Skepsis gegenüber dem Versuch, die Struktur und den Wandel menschlicher Kollektive mit Hilfe der Sozialwissenschaften zu verstehen. Zur gleichen Zeit nahmen Soziologie und Sozialanthropologie eine ganz ähnliche antiobjektive und antistrukturelle Wendung und verschmolzen mit Varianten der sogenannten »Kritischen Theorie«, woraus einige Extremformen des postmodernen Relativismus entstanden. Die neo-klassische Ökonomie reduzierte die Gesellschaft auf eine Ansammlung von Individuen, die rational ihre Interessen verfolgten, woraus sich am Ende ein ahistorisches Marktgleichgewicht ergebe. Die neuen Historiker wandten sich ab von den Methoden, die den Sozialwissenschaften so lieb waren, und von den interdisziplinären »großen Fragen« der gesellschaftlichen Veränderung und befleißigten sich wieder der historischen Erzählung (vor allem der politischen Erzählung) statt der Strukturanalyse. Einerseits beschäftigten sie sich jetzt mit Kultur- und Ideengeschichte, andererseits mit individuellen historischen Erfahrungen. Ein wichtiger Strang lehnte nicht nur historische und gesellschaftliche Generalisierungen und Prognosen ab, sondern allein schon die Vorstellung, man könnte eine objektiv gegebene Realität untersuchen. Diese kritische Abwendung von den nunmehr bestimmenden »Modernen« hatte keine spezifische politische oder ideologische Ausrichtung. Braudel und die Annales fielen ihr ebenso zum Opfer wie Marx. Einige Aspekte des neuen Revisionismus dürften zwar auch traditionellen Konservativen gefallen haben, wie etwa die historische Unbestimmtheit (die zu einer Reihe von Gedankenspielen in kontrafaktischer oder »Was wäre gewesen, wenn?«-Geschichtsschreibung führte), doch überwiegend speiste er sich aus dem Nach-68er-Radikalismus. Einige derjenigen, die man als »postmoderne« Historiker bezeichnen könnte, gehörten sogar weiterhin zur revolutionären Linken.
Die Abwendung vom Marxismus war somit in der nicht-kommunistischen Welt Teil einer allgemeineren Veränderung bei den Sozial- und Geisteswissenschaften in den 1970er Jahren. Sie stand in keinem ersichtlichen Zusammenhang mit der Ideologie des Kalten Krieges, Feindseligkeit gegenüber der UdSSR und Angriffen auf diese oder jene nationale kommunistische Partei durch Dissidenten. So stark diese in den 1950er und 1960er Jahren waren, gab es daneben doch, wie wir gesehen haben, eine eindrucksvolle Welle des politischen Radikalismus und unter anderem auch des intellektuellen Marxismus. Noch weniger handelte es sich um eine Antizipation des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime in Europa; er wurde sogar von denen, die diese Regime verachteten, erst kurz bevor es tatsächlich dazu kam, prophezeit. Ebenso wenig können wir diese Abwendung den heraufziehenden Krisen der Sozialdemokratie zuschreiben, deren Parteien tatsächlich in den 1970er Jahren in Europa mehr Regierungen stellten als je zuvor oder seither. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, waren die Namen, die im letzten Jahrhundertviertel am häufigsten mit dem intellektuellen Anti-Marxismus und Anti-Kommunismus in Verbindung gebracht wurden, nicht neu. Selbst diejenigen, die den »Gott, der keiner war«, vehement kritisierten, hatten schon vor 1970 mit ihren jeweiligen kommunistischen Parteien gebrochen. Der systematische Versuch der Kalten Krieger im Westen, dem sowjetischen »Kampf der Ideen« durch »Kongresse für kulturelle Freiheit« zu begegnen, hat nicht lange überlebt, nachdem 1967 bekannt geworden war, dass diese Veranstaltungen von der CIA finanziert worden waren.
Allenfalls hat der Rückzug vom Kommunismus seinen Grund innerhalb der alten radikalen Linken selbst, nicht zuletzt in dem Konflikt, der in den revolutionären Varianten des Marxismus angelegt war, nämlich zwischen unausweichlicher historischer
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