Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
Gültigkeit. Doch setzt jedes zukünftige Wiederaufleben des Interesses am Marxismus unzweifelhaft voraus, dass traditionelle Ansichten in seinem Denken grundlegend neu ausgerichtet werden.
Ohne den Zusammenbruch der meisten kommunistischen Regime und ohne den bewussten Verzicht von anderen auf ihre traditionellen Methoden und Ziele sowie die gleichzeitige Krise der gewerkschaftsnahen Sozialdemokratie hätte das vermutlich nicht ausgereicht, um den Marxismus im intellektuellen Diskurs so gut wie völlig zu marginalisieren. Da angeblich marxistische Systeme und Bewegungen, die einmal von Marx inspiriert waren, nicht überlebt oder sich von ihren traditionellen Zielen verabschiedet hatten, war es weder politisch wichtig noch schien es intellektuell notwendig, viel Zeit auf Theorien zu verschwenden, die von der Geschichte offenkundig diskreditiert waren. Der Kalte Krieg war jedenfalls vorbei. Paradoxerweise aber gingen die empörten Angriffe selbst dann noch weiter, als ihre Ziele längst verschwunden waren, so wie ja auch der Antisemitismus in Polen weiterlebte, als die Juden schon lange aus dem Land verschwunden waren.
Die antikommunistische Rhetorik des Kalten Krieges ging also auch nach dessen Ende weiter, richtete sich allerdings weniger gegen einen einstmals gefürchteten Gegner, sondern sollte der weltweiten Überlegenheit und, so hoffte man, Vorherrschaft des westlichen liberal-demokratischen Kapitalismus dienen. Der sah sich selbst, zunehmend selbstbewusst, durch den Einsatz militärischer und weicher Macht, die mit Hilfe einer Ideologie universeller Menschenrechte begründet wurde, als Ordnung stiftende Kraft in einer chaotischen Welt. Wütend attackiert – wirkliche Argumente gab es ja nicht mehr – wurden nicht Marx’ Theorien und Analysen, sondern seine Revolutionsperspektive, die, so die Behauptung, die idealistische Jugend in die Irre führe, sowie der Totalitarismus, den er oder jede andere Infragestellung des Liberalismus angeblich implizierte oder propagierte, ganz zu schweigen von den Hindernissen, die sozialistische Bestrebungen für die selbstregulierende Rationalität der marktwirtschaftlichen Gesellschaft darstellten. Mit einem Wort: Marx wurde zum geistigen Vater von Terror und Gulag stilisiert, und Kommunisten galten im Grunde als Verteidiger von Terror und KGB, wenn sie nicht sogar aktiv daran beteiligt waren. Unklar ist, inwieweit diese Rhetorik diejenigen überzeugte, die sich nicht ohnehin schon zur Zeit des Kalten Krieges abgewandt hatten von diesem »Gott, der keiner war«. Fraglich ist, ob diese exorzistischen Übungen noch lange überleben in einem Jahrhundert, in dem schon heute allenfalls die Menschen Ende 30 und älter noch irgendwelche Erinnerungen an die Zeit des Kalten Krieges haben.
Letztlich jedoch sollte Marx eine ziemlich unerwartete Rückkehr erleben in eine Welt, in welcher der Kapitalismus daran erinnert wurde, dass seine Zukunft nicht durch die Gefahr einer sozialen Revolution in Frage gestellt wird, sondern allein durch die Art seines ungehinderten globalen Operierens. Was das angeht, ist Marx ein scharfsichtigerer Ratgeber als all diejenigen, die an die rationalen Entscheidungen und die Selbstkorrektur-Mechanismen des freien Marktes glauben.
14 MARX UND DIE ARBEITERBEWEGUNG: DAS LANGE JAHRHUNDERT
Es scheint angemessen, dass eine Sammlung von Studien zur Geschichte des Marxismus mit einem Kapitel über die organisierte Bewegung der Arbeiterklasse schließt. Für Marx sollte das Proletariat zum »Totengräber des Kapitalismus« werden, zum zentralen Akteur der gesellschaftlichen Veränderung. Im 20. Jahrhundert machten sich die meisten organisierten Bewegungen und Parteien der Arbeiterklasse den Marx’schen Traum von einer neuen Gesellschaft (»Sozialismus«) zu eigen, und umgekehrt betrachteten fast ausnahmslos alle Marxisten diese Parteien und Bewegungen als ihr bevorzugtes Feld politischen Handelns. Doch sowohl der Marxismus als auch die Arbeiterbewegungen lassen sich einzig und allein als unabhängige historische Akteure betrachten, deren wechselseitige Beziehungen komplex und Veränderungen unterworfen waren. Gleiches gilt für beider Einfluss auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Zwar weiß jeder Leser des Kommunistischen Manifests , dass Arbeiterbewegungen deutlich älter sind, doch lässt sich dieser Überblick über die Arbeiterbewegungen und ihre Ideologien mit einiger Berechtigung ganz am Ende des 19. Jahrhunderts beginnen. Die ersten wirklich
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