Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Hobsbawm
Vom Netzwerk:
–, und im Zuge der politischen Radikalisierung entschieden sich viele Studenten für dieses Fach. Intellektuell ließ ihre Bedeutung rasant nach, als die radikale Stimmung an den Universitäten verflogen war.
    Auch die Geschichtswissenschaft war mit dem studentischen Radikalismus verbunden, doch aufschlussreicher ist ihre Entwicklung als Forschungsfeld. Hier gehörten die Marxisten zu der Modernisierungsströmung, welche die ausgetrocknete konventionelle Historiographie wieder fruchtbar machen wollte, denn diese althergebrachte Geschichtsschreibung wehrte sich gegen Generalisierungen jeglicher Art und beschränkte sich weitgehend auf die politik-, militär- und institutionengeschichtliche Darstellung chronologischer Ereignisabläufe und der Taten herausragender Einzelner. Sie sollte erneuert werden, indem man die Erkenntnisse und Methoden der Sozialwissenschaften nutzte, die sich damals rasant entwickelten. Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Reformer, die aus ganz unterschiedlichen Disziplinen und ideologischen Richtungen kamen, erkennbare Präsenz erlangt, waren in ihrem Sturm auf die Bastionen der akademischen Geschichtswissenschaft aber kaum vorangekommen; allenfalls war es ihnen gelungen, in den Randbereichen einen institutionellen Außenposten der »Wirtschafts- und Sozialgeschichte« zu errichten. Zwischen den Kriegen und vor allem in den 1930er Jahren machten sie zwar gewisse Fortschritte, doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie zu einem wichtigen Faktor innerhalb des Faches.
    Dann aber beeinflussten und veränderten sie das Feld der Geschichtswissenschaft tatsächlich, insbesondere mittels Zeitschriften, in denen sich Historiographie und Gesellschaftswissenschaften miteinander verbanden. An erster Stelle zu nennen sind hier Marc Blochs und Lucien Febvres berühmte Annales d’histoire économique et sociale , die seit 1929 als vehementer Gegner der alten konventionellen Geschichtsschreibung in Frankreich fungierten und später dann, mit neuem Titel versehen, unter Fernand Braudel zum einflussreichsten historischen Journal weltweit wurden. Braudel gründete überdies als Gegen-Institution zur alten Universität in der neu errichteten Maison des Sciences de l’Homme die École des Hautes Études en Sciences Sociales. Die Annales -Schule war, was ihre intellektuelle Herkunft oder ihre geistigen Sympathien angeht, keineswegs marxistisch, aber sie inspirierte die Zeitschrift Past & Present , die von marxistischen Historikern in Großbritannien gegründet wurde. Da auf der Insel ein formelles Organ der Opposition gegen die Hochschule alten Stils fehlte, wurde sie zum recht bescheidenen englischsprachigen Pendant. Beide beeinflussten die Reform der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1960 unter dem programmatischen Titel »Historische Sozialwissenschaft«, die auch institutionell gestärkt wurde durch die Gründung entsprechend ausgerichteter neuer Universitäten, vor allem derjenigen in Bielefeld. Die deutschen Reformer waren eher von Max Weber denn von Marx inspiriert. Gleichzeitig wurde in den USA ein explizit interdisziplinäres Journal ins Leben gerufen, die Comparative Studies in Society and History , die sich später zur noch immer aktiven »Social Science History Association« erweiterten.
    Ab 1970 jedenfalls gaben die Reformer zweifellos den Ton an und drängten die traditionellen Historiker deutlich in die Defensive. Das enorme Anwachsen einer zunehmend radikalisierten Studentenschaft verstärkte ihren Einfluss noch zusätzlich und machte die »Sozialgeschichte« sowie die stärker theoretisch ausgerichtete Soziologie zur Waffe der jungen Intellektuellen. Welche Rolle Marx und der Marxismus bei diesen Entwicklungen spielten, lässt sich schwer einschätzen, aber das Register einer Überblicksdarstellung zu diesem Gebiet aus dem Jahr 1971 verzeichnet zu ihnen weit mehr Einträge als zu jedem anderen Historiker oder jeder anderen geschichtswissenschaftlichen Schule. 3 Und es war ein marxistisches Werk, das – in den Worten des Historikers der britischen Historiographie der 100 Jahre zwischen 1907 und 2007 – »endlich einige der veralteten Lehrbücher aus einer früheren Epoche aus den Regalen selbst entlegener Bibliotheken verdrängte«. 4 Doch die marxistische Minderheit (außer in den Ländern unter kommunistischer Herrschaft, wo Historiker keine andere Wahl hatten) war stets nur ein Teil der umfassenderen historiographischen Modernisierungsbewegung, die nunmehr endgültig gesiegt zu

Weitere Kostenlose Bücher