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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Hobsbawm
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bedeutsamen Werke über die britische Arbeiterbewegung erschienen in den 1890er Jahren, allen voran die bemerkenswerten Studien von Sidney und Beatrice Webb über die Gewerkschaftsbewegung. Die erste vergleichende Darstellung mit globaler Perspektive stammt aus dem Jahr 1900: Wilhelm Kulemanns Die Gewerkschaftsbewegung. Darstellung der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter und Arbeitgeber aller Länder . Etwa um die gleiche Zeit erschienen die ersten historischen Studien, die aus den neuen sozialistischen Parteien selbst kamen, beispielsweise 1898 die erste Fassung von Franz Mehrings Geschichte der SPD.
    Die 1890er Jahre waren überdies das Jahrzehnt, in dem die europäischen Regierungen die politische Existenz straff organisierter Arbeiterbewegungen anerkannten. So veröffentlichte die britische Regierung ihren ersten Abstract of Labour Statistics 1893/94; die belgische Regierung gab ab 1896 eine Revue du travail heraus. Erstmals fühlte sich ein britischer Premierminister – Lord Rosebery im Jahr 1894 – zu persönlichem Eingreifen gedrängt, um einen Streit zwischen Unternehmern und Arbeitern zu schlichten. Fünf Jahre später folgte der französische Ministerpräsident Pierre Waldeck-Rousseau seinem Beispiel, nachdem ihn die streikenden Arbeiter der Schneider-Creusot-Werke dazu aufgefordert hatten zu vermitteln. Und im gleichen Jahr unternahm die französische Regierung einen Schritt, der die politischen Parteien der Arbeiterschaft oder zumindest die sozialistischen Parteien bis ins Mark erschütterte. Sie berief einen Sozialisten, nämlich den 40 Jahre alten Alexandre Millerand, zum Handelsminister. Bis dahin – und tatsächlich noch viele Jahre lang – galt es den Sozialisten als ausgemachte Sache, dass sie niemals eine Regierung stellen oder sich an einer solchen beteiligen würden, bevor nicht die Revolution oder ein Generalstreik den Kapitalismus hinweggefegt oder zumindest eine kompromisslose sozialdemokratische Partei einen alleinigen Wahlsieg errungen hatte. In ideologischer Hinsicht war das die Krise, mit der die politische Geschichte der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert begann.
    Warum kamen die europäischen Regierungen zu dem Schluss, dass sie die Arbeiterbewegungen ernst nehmen mussten? Sicherlich nicht wegen ihres wirtschaftlichen Gewichts, auch wenn jede Menge Unternehmer behaupteten, die Gewerkschaften würden der Industrie die Luft abschnüren. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad war noch bescheiden: In Großbritannien und Frankreich lag er zwischen 15 und 20 Prozent, in Deutschland darunter. Auch politisch war die Arbeiterschaft allenfalls in Deutschland ein einflussreicher Faktor, wo die SPD bei Wahlen mit 30 Prozent der (männlichen) Stimmen die deutlich stärkste Kraft wurde. Wenn aber, was wahrscheinlich war, eine Wahldemokratie eingeführt werden würde, dann durften die Arbeiterparteien damit rechnen, bei Wahlen ein wichtiger Faktor zu werden, wie das in Skandinavien und anderswo in den Jahren vor 1914 dann tatsächlich der Fall war. Was die Regierungen freilich wirklich nervös machte, war nicht die Wahlarithmetik, sondern das offensichtliche Klassenbewusstsein der Arbeiter, das in den neuen und vorwiegend »roten« Klassenparteien zum Ausdruck kam. Winston Churchill, 1906 ein Handelsminister mit liberalen Neigungen, hat es so formuliert: Sollte das alte Zweiparteiensystem aus Konservativen und Liberalen zusammenbrechen, dann würde britische Politik zur offenen Klassenpolitik werden, das heißt, sie würde vom Konflikt der Klasseninteressen bestimmt. In Großbritannien, wo ein Großteil der Bevölkerung zu den »Arbeitern« gehörte oder sich dazu zählte, waren diese Konflikte offenbar besonders drängend, doch die Vermeidung einer Politik des Klassenkampfs war ein allgemeines Problem.
    Die Millerand-Krise zwang die neuen Arbeiterparteien zum ersten und keineswegs letzten Mal, ihr Verhältnis zu dem System, in dem sie sich betätigten, zu überdenken. Die Zeit war ganz offenkundig reif, diese Frage zu stellen, denn beinahe zur gleichen Zeit (im Herbst 1899) veröffentlichte Eduard Bernstein, eine der ersten Stützen des deutschen Marxismus, sein reformistisches Manifest Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie , das in der internationalen Bewegung eine heftige Debatte auslösen sollte. Nicht unwesentlich war zudem, dass zu dieser Zeit, ebenfalls zum ersten Mal, Bücher mit Titeln wie Die wissenschaftliche und philosophische Krise

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