Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
seltsamerweise nirgendwo populärer waren als in den USA.
Natürlich steht unzweifelhaft fest, dass Arbeiterbewegungen im Zeitraum zwischen dem Kommunistischen Manifest und den 1970er Jahren nur in Ausnahmefällen keinen Bezug zum Sozialismus hatten. In der Praxis findet sich im Grunde keine einzige Arbeiterbewegung, in der Sozialisten oder von sozialistischen Bewegungen geprägte Menschen nicht eine wichtige Rolle gespielt hätten. Diese Symbiose von Arbeiterbewegung und Sozialismus war augenscheinlich kein Zufall. Beide Seiten hatten etwas davon, außer in den Systemen des »real existierenden Sozialismus«, welche die Arbeiterbewegungen im Namen der Partei, die angeblich die Arbeiterklasse repräsentierte, und im Namen des Sozialismus abschafften.
Gleichwohl waren Arbeiterbewegungen und Sozialismus nicht zwangsläufig deckungsgleich. So behaupteten marxistische Theoretiker von Kautsky bis Lenin, die Arbeiterbewegungen würden den Sozialismus nicht spontan hervorbringen, sondern er müsse von außen in sie hineingetragen werden. Das mag ein wenig übertrieben sein. Das Zeitalter der amerikanischen, Französischen und industriellen Revolution, so könnte man dagegenhalten, habe die Möglichkeit, der bestehenden Ordnung ein Ende zu machen und sie durch eine völlig andere, bessere Gesellschaft zu ersetzen, zu einem festen Bestandteil der intellektuellen Szene gemacht, zumindest im Westen. Der – im Wesentlichen kollektive – Kampf der Arbeiter um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen implizierte somit potentiell solch eine bessere, also sozial gerechtere Gesellschaft und damit letztlich eine Gesellschaft, die auf Gemeinschaft und Kooperation basierte, nicht auf Wettbewerb. Bewegungen der Armen griffen diese Perspektive auf und übernahmen sie. Von außen hineingetragen werden musste etwas anderes: der spezifische Name und Inhalt dieser neuen Gesellschaft, eine Strategie für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und vor allem das Konzept einer politisch unabhängigen Klassenpartei, die auf nationaler Ebene aktiv war. Organisationen wie Gewerkschaften, Genossenschaften oder Kollektive konnten spontan aus der Lebenserfahrung der Arbeiter heraus entstehen, nicht aber politische Parteien.
Der grundlegende Beitrag von Marx und Engels seit dem Kommunistischen Manifest bestand darin, dass die Klassenorganisation der Arbeiter in einer politischen Partei ihren Ausdruck finden müsse, die überall auf dem Territorium des betreffenden Staates und vielleicht sogar darüber hinaus aktiv sein sollte. (Das war zugegebenermaßen nur in liberalen oder bürgerlich-demokratischen Verfassungsstaaten möglich.) Diese These hatte enorme historische Bedeutung, nicht nur für die Arbeiterbewegung, die ohne die Mobilisierung staatlicher Unterstützung gegen die Unternehmer in ihren Zielen nicht besonders weit kommen konnte, sondern auch für die Struktur moderner Politik ganz allgemein. Sie erwies sich zudem als durchaus realistisch, denn nach Marx’ Tod entstanden mehrere solcher Parteien, von denen einige bis heute ihre ursprüngliche Klassenzugehörigkeit im Namen tragen – die Labour Party, El Partido Socialista Obrero Español, Sveriges Socialdemokratiska Arbetareparti, Det Norske Arbeiderparti – und die in weiten Teilen des nicht-kommunistischen Europas Regierungs- oder wichtige Oppositionspartei werden beziehungsweise bleiben sollten. Eine solche Bilanz in Sachen Kontinuität und Bedeutung ist auf unserem Kontinent nahezu beispiellos. Nebenbei entkräftet sie den Glauben, Arbeiterbewegungen müssten revolutionär sein oder bleiben, weil sie unter dem Kapitalismus nichts erreichen würden. Diese Behauptung, so zeigt sich heute, entbehrt jeder Grundlage, nicht anders als die These, wonach das Proletariat historisch zwangsläufig eine »wahrhaft revolutionäre Klasse« sei oder sein werde. Die Geschichte hat uns zudem gelehrt, dass Revolutionen ein viel zu komplexes Ereignisgefüge sind, als dass man sie einfach als Transkriptionen der Klassenstruktur betrachten könnte. Linke Theoretiker und Historiker der Arbeiterbewegung, die wie die Marxisten zu erklären versuchten, warum sich die meisten Parteien der Arbeiterklasse strikt weigerten, die ihnen zugedachte revolutionäre Rolle zu übernehmen, hätten sich viel Zeit, Mühe und Scharfsinn sparen können.
Kurz gesagt: In den meisten (Rechts-)Staaten des entwickelten Kapitalismus, in denen Revolutionen aus anderen Gründen nicht auf der Tagesordnung standen, gab es
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