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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Hobsbawm
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innerhalb oder außerhalb der Arbeiterbewegungen Revolutionäre, doch die meisten organisierten Arbeiter, selbst die klassenbewussten, waren normalerweise nicht revolutionär gesinnt, selbst wenn ihre Parteien auf den Sozialismus eingeschworen waren. In Ländern wie dem Russischen oder Osmanischen Reich war die Situation natürlich eine ganz andere, denn dort konnte jegliche politische Veränderung zum Besseren nur über eine Revolution erfolgen.
    In den Kernstaaten des entwickelten Kapitalismus schien somit zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer Symbiose von Arbeiterbewegung und einem florierenden Wirtschaftssystem nichts im Wege zu stehen. Weder der Zusammenbruch des Kapitalismus noch der liberalen und zunehmend demokratisierten Verfassungen, wie sie für diese Region typisch waren, war in Sicht. Das kapitalistische Entwicklungsmodell schien ebenso wenig gefährdet wie die imperialistische Aufteilung der Welt, denn in der »rückständigen« Welt war die ökonomische, kulturelle und nicht zuletzt militärische Überlegenheit der »fortgeschrittenen« Welt evident. Sogar in den »rückständigen« Ländern, wo die Revolution eine reale Perspektive und nicht nur eine rhetorische Parole darstellte, war den Marxisten klar, dass die bürgerlich-kapitalistische Entwicklung der einzig gangbare Weg war. Deshalb verwandelten die sogenannten »legalen Marxisten« in Russland den Marxismus in eine Ideologie der kapitalistischen Industrialisierung, doch bis 1917 waren selbst die Bolschewiki überzeugt, das unmittelbare Ziel der kommenden Revolution sei eine bürgerlich-liberale Gesellschaft, denn nur diese könne die historischen Bedingungen für ein weiteres Voranschreiten hin zur proletarischen Revolution und damit zum Sozialismus schaffen.
    Der Erste Weltkrieg schien all diese Erwartungen zunichte zu machen. Das »Katastrophenzeitalter« von 1914 bis Ende der 1940er Jahre stand ganz im Zeichen von Krieg, sozialem und politischem Zusammenbruch und Revolution – allen voran der russischen Oktoberrevolution. Für die alte Welt lief es dabei ganz schlecht. Die Kriege endeten mit Revolutionen und kolonialem Aufruhr. An die Stelle bürgerlich-liberaler und demokratischer Rechtsstaaten traten politische Regime, die vor 1914 kaum vorstellbar gewesen wären, wie etwa Hitler-Deutschland oder Stalins UdSSR. Selbst die Marktwirtschaft des Wirtschaftsliberalismus schien in der Krise Anfang der 1930er Jahren zusammenzubrechen. Konnte der Kapitalismus möglicherweise nur in einer Form überleben, die sowohl die Demokratie als auch die Arbeiterbewegung abschaffte? Allein das Ausmaß der Probleme, mit denen der globale Kapitalismus zu kämpfen hatte, kann erklären, warum sogar außerhalb der Sowjetunion die primitive Industrieökonomie der UdSSR unter Stalin ernsthaft als System, das dynamischer war als das westliche, und als mögliche globale Alternative zum Kapitalismus gelten konnte. Noch Anfang der 1960er Jahre gab es bürgerliche Politiker wie den britischen Premierminister Harold Macmillan, der wie Chruschtschow der Überzeugung war, die sozialistischen Ökonomien könnten die westlichen Volkswirtschaften in puncto Produktion hinter sich lassen. Selbst diejenigen, die Wirtschaftsleistung und -potential der UdSSR skeptischer sahen, konnten ihr globales politisches Gewicht und ihre militärische Macht nicht in Abrede stellen. Der Erste Weltkrieg hatte den Zarismus zerschlagen, der Zweite Weltkrieg hatte Russland in den Rang einer Supermacht befördert. Für große Teile der nun befreiten Kolonien und andere Regionen der »Dritten Welt« wurde die UdSSR – und damit der Sozialismus – tatsächlich zum ökonomischen Modell dafür, wie sich Rückständigkeit überwinden ließ.
    Die politische Agenda von Sozialisten und Arbeiterbewegungen verschob sich im Katastrophenzeitalter deshalb vom Leben mit dem Kapitalismus hin zu dessen Abschaffung. Die Revolution und der anschließende Aufbau einer neuen Gesellschaft schienen eine bessere Perspektive zu bieten als der lange Marsch vorwärts durch Reformen hier und da hin zu einem fernen und nicht wirklich ernsthaft verfolgten Sozialismus. Sidney und Beatrice Webb, die Begründer der Fabian Society und Verfechter eines schrittweisen Reformismus, die in den 1890er Jahren tatsächlich Inspirationsquelle für Bernsteins Revisionismus waren, schworen dem Reformismus in den 1930er Jahren ab und setzten ganz auf den sowjetischen Sozialismus.
    Auch wenn es nach 1917 ganz und gar nicht danach aussah, war

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