Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
ist in den ehemals kommunistischen Ländern Europas sowie in Süd- und Westasien vermutlich am größten, in Lateinamerika hingegen am geringsten. In den USA könnte die Wirtschaftskrise zu einem relativen Linksruck führen, wie es ihn während der Großen Depression unter Franklin D. Roosevelt gab, wohingegen das anderswo eher unwahrscheinlich ist.
Und doch hat sich etwas zum Besseren hin verändert. Wir haben wieder gemerkt, dass der Kapitalismus nicht die Antwort, sondern die Frage ist. Ein halbes Jahrhundert lang galt sein Erfolg als so selbstverständlich, dass nicht einmal mehr der Begriff die traditionellen negativen Konnotationen trug, sondern nunmehr positiv besetzt war. Geschäftsleute und Politiker konnten jetzt nicht nur die Freiheit des »freien Unternehmertums« in vollen Zügen genießen, sondern durften auch ganz offen kapitalistisch sein. 1 In den 1970er Jahren hatte das System vergessen, welche Befürchtungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu seiner Reform geführt und welch großen ökonomischen Nutzen die westlichen Volkswirtschaften im darauffolgenden »Goldenen Zeitalter« daraus gezogen hatten, und kehrte zur extremen – man könnte auch sagen: pathologischen – Version der Laisser-faire-Politik zurück (»der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem«), die schließlich 2007/08 implodierte. Nach dem Ende des Sowjetsystems glaubten die Ideologen dieser Politik fast 20 Jahre lang, das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) 2 sei gekommen, der wirtschaftliche und politische Liberalismus habe endgültig den Sieg davongetragen, das Wachstum sei gesichert in einer endgültigen und dauerhaften, sich selbst stabilisierenden sozialen und politischen Weltordnung des Kapitalismus, die weder theoretisch noch praktisch in Frage gestellt werde, ja, überhaupt gestellt werden könne.
Das ist alles obsolet. Die Versuche, im 20. Jahrhundert die Weltgeschichte als ökonomisches Nullsummenspiel zwischen privat und staatlich, zwischen reinem Individualismus und reinem Kollektivismus zu betrachten, haben den offenkundigen Bankrott der sowjetischen Wirtschaft sowie der Ökonomie des »Marktfundamentalismus« zwischen 1980 und 2008 nicht überlebt. Eine Rückkehr zur einen Wirtschaftsform ist so wenig möglich wie zur anderen. Seit den 1980er Jahren war klar, dass den Sozialisten, ob Marxisten oder anderen, ihre traditionelle Alternative zum Kapitalismus abhanden gekommen ist, zumindest wenn und solange sie ihre Vorstellung von »Sozialismus« nicht überdachten und sich nicht von der Annahme befreiten, die (Hand-)Arbeiterklasse sei zwangsläufig der Hauptakteur gesellschaftlicher Veränderung. Doch auch diejenigen, die zwischen 1973 und 2008 an die reductio ad absurdum der marktwirtschaftlichen Gesellschaft glaubten, stehen hilflos da. Zwar ist ein alternatives System nicht wirklich in Sicht, aber die Möglichkeit einer Auflösung oder sogar eines Zusammenbruchs des bestehenden Systems ist nicht mehr auszuschließen. Keine Seite weiß, was in diesem Fall passieren wird oder passieren könnte.
Paradoxerweise sind deshalb beide Seiten daran interessiert, zu einem bedeutenden Denker zurückzukehren, dessen Kernaussage die Kritik des Kapitalismus wie auch derjenigen Ökonomen ist, die nicht erkannten, wohin die kapitalistische Globalisierung führen würde, wie er sie 1848 prognostiziert hatte. Wieder einmal ist offenkundig, dass die Funktionsweisen eines Wirtschaftssystems sowohl historisch, als bestimmte Phase und nicht als Ende der Geschichte, als auch realistisch zu analysieren sind, das heißt nicht im Hinblick auf ein ideales Marktgleichgewicht, sondern auf einen eingebauten Mechanismus, der immer wieder potentiell systemverändernde Krisen erzeugt. Die gegenwärtige mag eine dieser Krisen sein. Erneut zeigt sich, dass der »Markt« selbst zwischen den größeren Krisen keine Antwort auf das zentrale Problem liefert, vor dem das 21. Jahrhundert steht: dass unbegrenztes und zunehmend durch Hochtechnologie generiertes Wirtschaftswachstum im Streben nach nicht nachhaltigem Profit zwar globalen Reichtum schafft, allerdings auf Kosten eines immer entbehrlicher werdenden Produktionsfaktors, nämlich der menschlichen Arbeitskraft, und, so könnte man hinzufügen, der natürlichen Ressourcen unseres Planeten. Wirtschaftlicher und politischer Liberalismus, jeder für sich oder im Zusammenspiel, können die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht lösen. Es ist wieder einmal an der Zeit, Marx ernst zu
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