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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Hobsbawm
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der Kapitalismus in seinen Hochburgen weder vom endgültigen Zusammenbruch noch von einer sozialen Revolution bedroht – Letztere blieb auf Länder an der Peripherie des Systems beschränkt. Die sowjetische Revolution in Petrograd schwappte nicht auf Berlin über, und wie wir heute erkennen können, war diese Erwartung in der Tat unrealistisch. Deshalb blieben die starken Grundfesten der reformistischen Symbiose unangetastet. Sie gewann sogar noch an Attraktivität für Politiker und Unternehmer, nämlich als Schutz vor einer sozialen Revolution und dem Gespenst einer weltweiten kommunistischen Bewegung, umso mehr, als jetzt scharf unterschieden wurde zwischen reformistischen sozialdemokratischen und revolutionären kommunistischen Parteien, die sich feindlich gegenüberstanden. Das Einzige, was zwischen den Kriegen des Öfteren fehlte, war das Wirtschaftswachstum, das die Mittel für die notwendigen Zugeständnisse an die Arbeiterbewegungen zur Verfügung stellte. Jedenfalls weigerte sich selbst in den schlimmsten Krisentagen die Mehrheit in den Arbeiterbewegungen dieser Länder, sich von reformorientierten in revolutionäre Parteien zu verwandeln. In der Zwischenkriegszeit konnten sich die kommunistischen Parteien nur in drei Ländern, in denen sie offiziell zugelassen waren, breiter Unterstützung erfreuen, doch auch dort blieben sie hinter der Sozialdemokratie zurück: in Deutschland, Frankreich und der Tschechoslowakei. Wäre die KP in Finnland nicht verboten gewesen, wären es vielleicht vier gewesen. Anderswo kamen die Kommunisten zwischen den Kriegen auf maximal 6 Prozent der Wählerstimmen (Belgien, Norwegen, Schweden), und auch das nur für kurze Zeit.
    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Symbiose im Zuge einer Politik der Strukturreform des westlichen Kapitalismus systematischer vorangetrieben, und zwar mittels der bewussten Politik der Vollbeschäftigung und des Sozialstaats: Grundlage dafür war das massive Wachstum der kapitalistischen Volkswirtschaften in den Jahrzehnten nach dem Krieg (1947–1973). Wäre es ohne die traumatischen Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise zwischen den Kriegen und des Aufstiegs von Nazi-Deutschland zu diesem bewussten Versuch, die Arbeiterschaft zu integrieren, gekommen? Inwieweit war das der Angst vor dem Kommunismus geschuldet, der in den Jahren des antifaschistischen Widerstands dramatisch an Stärke gewonnen hatte? Dahinter stand jetzt immerhin eine Supermacht. Hätte Bernstein (»Das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt, ist mir nichts, die Bewegung alles.«) ohne Stalin und Hitler gesiegt? Wirklich wahrscheinlich ist das nicht.
    In den kapitalistischen Kernländern herrschte somit im neuen Goldenen Zeitalter des Kapitalismus das revisionistische Modell der Arbeiterbewegung vor. Symbolisch für den Sieg dieses Modells stand die formelle Preisgabe des Marxismus im Godesberger Programm der SPD 1959. Wenn man sich seiner entledigte, schien man nichts zu verlieren außer sentimentalen Erinnerungen, denn als sich das Goldene Zeitalter (1947–1973) seinem Ende näherte, hatte man die Ziele des Reformismus praktisch erreicht, und den Arbeitern ging es unvergleichlich viel besser, als sich das selbst die optimistischsten Vertreter des Reformismus vor 1914 hätten vorstellen können. Obwohl die revisionistischen Parteien das »Endziel« des Sozialismus aufgaben, blieben sie in der Arbeiterklasse verwurzelt und gerieten lediglich vom traditionellen linken Flügel her unter Beschuss. Die Klasse der Handarbeiter, ihre wichtigste Wählergruppe, stimmte weiterhin für sie. Erst später löste sie sich von ihren Klassenparteien.
    Bis Ende der 1970er Jahre benötigte die spektakuläre Ausweitung der Produktion tatsächlich eine riesige Masse an Industriearbeitern, die deshalb eine wichtige Wählergruppe blieben oder wurden. In den 1970er Jahren gab es im kapitalistischen Europa vermutlich, absolut wie relativ, mehr Proletarier als Ende des 19. Jahrhunderts, als das neue Klassenbewusstsein der Arbeiterschaft plötzlich proletarische Massenparteien hervorbrachte. Klar ist heute aber auch, dass diese Arbeiterparteien selbst dann, wenn Reformer und Revolutionäre zusammenspielten, nie mehr als die Hälfte der Wählerstimmen auf sich vereinen konnten, und auch das erst nach dem Zweiten Weltkrieg.
    Sieht man einmal von der Zwischenkriegszeit ab, lässt sich die Entwicklung der Arbeiterbewegungen in den kapitalistischen Kernländern bis zur Zeit der Krise ab den 1970er Jahren

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