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Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)

Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)

Titel: Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James N. Frey
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Roman:
    Scarlett O’Hara war nicht eigentlich schön zu nennen. Wenn aber Männer in ihren Bann gerieten, wie jetzt die Zwillinge Tarleton, so wurden sie dessen meist nicht gewahr. Allzu unvermittelt zeichneten sich in ihrem Gesicht die zarten Züge ihrer Mutter, einer Aristokratin aus französischem Geblüt, neben den derben Linien ihres urwüchsigen irischen Vaters ab. Dieses Antlitz mit dem spitzen Kinn und den starken Kiefern machte stutzen. Zwischen den strahlenförmigen, schwarzen Wimpern prangte ein Paar blaßgrüner Augen ohne eine Spur von Braun. Die äußeren Winkel zogen sich ein klein wenig in die Höhe, und auch die dichten, schwarzen Brauen darüber verliefen in einer scharf nach oben gezogenen schrägen Linie vor jener magnolienweißen Haut, die in den Südstaaten so geschätzt und von den Frauen Geor- gias mit Häubchen, Schleiern und Handschuhen ängstlich vor der sengenden Sonne geschützt wird.
    Beachten Sie, wie anschaulich und spezifisch die Details sind; das erzeugt das Gefühl, daß die Erzählerin weiß, wovon sie spricht. Sie beschreibt nicht nur, wie Scarlett aussieht, sie sagt

auch etwas darüber, wem sie ihr Aussehen zu verdanken hat, und über die Einstellung der Südstaatler. Die Stimme ist unpersönlich, die Stimme eines Reporters; sie gibt keine Urteile oder Meinungen ab, sondern stellt lediglich die Tatsachen fest. Doch der Tonfall ist leicht melodramatisch, beinah heroisch: ein Antlitz, das stutzen machte, spitzes Kinn, starke Kiefern, was einer melodramatischen Geschichte angemessen ist. Hier haben wir eine Erzählerin, die eindeutig ihr Material im Griff und viel zu sagen hat.
    Stephen King benutzt genauso einen Erzähler in einigen Teilen von Carrie:
    Momma war eine sehr große Frau, und immer trug sie einen Hut. In letzter Zeit waren ihre Beine angeschwollen, und ihre Füße sahen immer so aus, als wollten sie über die Schuhe hinausquellen. Sie trug einen schwarzen Tuchmantel mit schwarzem Pelzkragen. Ihre Augen waren blau und riesenhaft vergrößert hinter den rahmenlosen Brillengläsern. Sie trug immer eine große schwarze Büchertasche mit sich, in der sie ihre Geldbörse aufbewahrte, sowie ihre Brieftasche (beide schwarz), und eine große King-James-Bibel (ebenfalls schwarz), auf deren Einband ihr Name in goldenen Lettern eingeprägt war, und schließlich einen Stoß Traktate, die von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Die Heftchen waren orangefarben und schmierig und unsauber gedruckt.
    Dieser Abschnitt enthält wunderbare Details: ihre Füße sahen immer so aus, als wollten sie über die Schuhe hinausquellen… auf deren Einband ihr Name in goldenen Lettern eingeprägt war.
    Sie haben vielleicht einmal gehört, daß in guter Literatur der »Autor unsichtbar« ist, was bedeutet, daß der Erzähler zwar wie ein Gott fungieren kann, aber nicht in Erscheinung treten sollte, daß die Stimme neutral sein sollte. Das ist nicht nur eine Pseudoregel, es ist ein ganz schlechter Ratschlag, der häufig angehenden Autoren gegeben wird. Ich muß gestehen, daß ich ihn in Wie man einen verdammt guten Roman schreibt auch gegeben habe. Der Autor (Erzähler) sollte nicht unsichtbar sein. Ganz und gar nicht. Macauley und Lannig drücken das in Technique in Fiction (1987) folgendermaßen aus: »Der Erzähler hat die Angewohnheit, die Pläne seines Autors zu durchkreuzen und eine eigene, klar erkennbare Persönlichkeit anzunehmen. Und in guter Literatur sollte er das auch.« Ja, das sollte er.
    So läßt Dostojewskijs Erzählerstimme in Verbrechen und Strafe die Persönlichkeit des Erzählers durchbrechen. So beschreibt er seinen Protagonisten Raskolnikow:
    Er war so schlecht gekleidet, daß mancher, der sich in seine Armut schickte, sich geniert hätte, am hellichten Tage in solchen Lumpen über die Straße zu gehen. Übrigens konnte man in diesem Stadtteil durch seine Kleidung schwerlich Aufsehen erregen. Durch die Nähe des Heumarkts, die Vielzahl gewisser Etablissements und eine Bevölkerung, die vorwiegend aus Handwerkern und Arbeitern bestand und in diesen innersten Straßen und Gassen Petersburgs eng zusammengepfercht lebte, war das gesamte Panorama gelegentlich von solchen Subjekten belebt, daß es sonderbar gewesen wäre, sich über den einen oder anderen zu wundern. In der Seele des jungen Mannes jedoch hatten sich bereits soviel Grimm und Verachtung angesam - melt, daß er, ungeachtet einer mitunter ganz jugendlichen Empfindlichkeit, sich seiner Lumpen auf der Straße am

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