Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)
wenigsten schämte. Anders war es nur, wenn er Bekannten oder früheren Kommilitonen begegnete, denen er überhaupt am liebsten aus dem Weg ging… Als indessen ein Betrunkener, der aus irgendeinem Grund auf einem riesigen Bauernwagen mit einem gewaltigen Gaul davor irgendwohin befördert wurde, ihm plötzlich im Vorbeifahren zurief: »Hast ja ‘n deutschen Hut auf!« und aus vollem Halse grölte, wobei er mit dem Finger auf ihn zeigte - da blieb der junge Mann stehen und griff krampfhaft nach seiner Kopfbe - deckung. Es war ein hoher, runder Hut von Zimmermann, aber völlig abgetragen, verfärbt, löcherig und fleckig, mit abgerissener Krempe, seitlich aufs häßlichste eingebeult. Aber es war nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, am ehesten ein Erschrecken, das sich
seiner bemächtigte.
Obwohl der Erzähler hier zweifellos über eine gottgleiche Allwissenheit verfügt, in dem Sinne, daß er alles über die Figur und die Stadt weiß, scheint die Persönlichkeit des Erzählers in der mitfühlenden Schilderung der Gefühle seines Protagonisten dennoch durch: daß er sich auf der Straße am wenigsten schämte… denen er überhaupt am liebsten aus dem Weg ging… aber es war nicht Scham… Dieser Roman ist geschrieben, als würde der Autor den Mann persönlich kennen und sich große Sorgen um ihn machen.
Etwas später, nach der ersten Begegnung des Protagonisten mit der Wucherin ist Raskolnikow über seine Mordgedanken schockiert. Er findet sie ekelhaft und widerwärtig, geht in eine schmutzige Schenke und trinkt ein Bier:
Sofort wich der Druck und seine Gedanken wurden klar. »Alles Unsinn«, sagte er voller Hoffnung, »es gab ja gar keinen Grund, aus der Fassung zu geraten! Alles physische Schwäche!«… Er spuckte verächtlich aus, aber seine Miene heiterte sich auf, als fühlte er sich plötzlich von einer schrecklichen Last befreit, und er ließ seine Blicke wohlwollend über die Anwesenden schweifen …
Es ist der Erzähler, der Raskolnikows Reaktion auf seine eigenen Überlegungen als »verächtlich« beschreibt. Mit anderen Worten, der Erzähler neigt dazu, Urteile über die Figur zu fällen, und er ist wohl kaum »unsichtbar«.
Das ist auch die Erzählerin in Stolz und Vorurteil nicht:
Mr. Bingley hatte sich bald mit den Hauptpersonen im Saal bekannt gemacht; er war lebhaft und gesellig, tanzte jeden Tanz, war betrübt, daß der Ball so früh zu Ende sein sollte, und äußerte, selber einen in Netherfield geben zu wollen. Nun, solche liebenswerten Eigen - schaften sprachen für sich selbst. Welch ein Unterschied zwischen ihm und seinem Freund! Mr. Darcy tanzte nur einmal mit Mrs. Hurst und einmal mit Miss Bingley; er lehnte es ab, sich den anderen Damen vorstellen zu lassen, und verbrachte den Rest des Abends mit Umherschlendern im Saal…
Dieses “Welch ein Unterschied“ zwischen ihm und seinem Freund! ist die Interpretation der Erzählerin, die Urteile abgibt, also sozusagen redaktionelle Arbeit leistet. Unsichtbar? Wohl kaum.
Tom Wolfes Erzähler in Fegefeuer der Eitelkeiten (1987) ist ebenfalls nicht unsichtbar:
… kniete Sherman McCoy in seiner Diele und versuchte, einem Dackel die Leine anzulegen. Der Boden bestand aus dunkelgrünem Marmor, und der erstreckte sich immer weiter. Er führte zu einer anderthalb Meter breiten Nußbaumtreppe, die sich in einer pompösen Rundung zum darüber gelegenen Stockwerk hinaufschwang. Eine Wohnung also, die, wenn man nur an sie denkt, bei Leuten in ganz New York und letztlich in der ganzen Welt Neid und Habgier entfacht. Doch Sherman brannte auf nichts weiter, als für dreißig Minuten aus seinem sagenhaften Riesenreich herauszukommen.
Der Tonfall ist natürlich insgesamt satirisch, doch die Persönlichkeit des Erzählers scheint durch und vermittelt seine Sicht der Dinge: Neid und Habgier entfacht.
Kurt Vonneguts Erzähler in Breakfast of Champions ist nicht nur nicht unsichtbar, er ist geradezu rechthaberisch:
Dies ist die Geschichte von einem Treffen zweier einsamer, dünner, ziemlich alter weißer Männer auf einem Planeten, der im Sterben lag.
Einer war ein Science-fiction-Autor namens Kilgore Trout. Zu der Zeit war er ein Niemand, und er glaubte, sein Leben sei vorbei. Er hatte unrecht. Dieses Treffen führte dazu, daß er einer der am meisten geliebten und geachteten Menschen aller Zeiten wurde.
Der Mann, mit dem er sich traf war ein Automobilhändler, ein Pontiac-Händler namens Dwayne Hoover. Dwayne Hoover stand kurz davor,
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