Wie man einen verdamt guten Roman schreibt (Teil 2)
lösen. Man könnte ziemlich am Anfang des Buches einen kurzen Abschnitt einfügen, in dem Dr. Moriartys Sichtweise in der dritten Person wiedergegeben wird, womit diese Besonderheit in den Vertrag aufgenommen wäre. Würde dann im Verlauf der Geschichte erneut gewechselt, würde es den Leser nicht stören.
Stephen King unterteilt Carrie formal in zwei Teile. Den ersten nennt er »Blutsport« und den zweiten »Ballnacht«; allerdings ändert er den Vertrag im zweiten Teil nicht. Er eröffnet »Blutsport« mit einem Zeitungsartikel, in dem beschrieben wird, wie aus heiterem Himmel ein Steinregen auf das Haus niedergeht, in dem Carrie wohnt. Dann führt er einen Erzähler in der dritten Person ein, der uns erklärt, was es mit diesem Steinregen auf sich hat. Rasch erken - nen wir, daß die Erzählung in der dritten Person hauptsächlich aus Carries Sicht erfolgt, doch daß der Autor sich das Recht vorbehalten hat, je nach Belieben auch andere Standpunkte einzunehmen. Die Erzählung in der dritten Person wird durch Passagen aus anderen Büchern unterbrochen, die angeblich nach den geschilderten Ereignissen geschrieben wurden. Diese Passagen sind von der eigentlichen Erzählung abgesetzt:
Aus: David R. Congress: Als der Schatten explodierte. Der Fall Carietta White: Dokumentierte Tatsachen und spezifische Schlußfolgerungen. Tulane University Press, 1981. (S. 34):
Eines dürfte kaum zu bestreiten sein: Das Unvermögen, bestimmte, auf Telekinese beruhende Vorfälle während der frühen Lebensjahre des White-Mädchens zu erkennen, sind auf Behauptungen zurückzuführen, wie sie z.B. White und Stearns in ihrer Studie Telekinese: Die Wiederentdeckung einer Urfähigkeit des Menschen dargelegt haben - daß nämlich die Gabe, Gegenstände allein durch Willenskraft zu bewegen…
Außerdem wird zitiert aus Ogilvies Lexikon der übersinnlichen Phänomene und Mein Name ist Susan Snell sowie aus Aufsätzen, die angeblich aus Zeitschriften wie Esquire und dem Jahrbuch der Wissenschaften stammen.
Von Anfang an hat der Autor dem Leser verdeutlicht, was das für ein Buch ist und wie es erzählt werden wird, und daran hält er sich bis zum Schluß.
Vom Winde verweht besteht aus zweiundsechzig Kapiteln, ist in fünf Teile aufgeteilt und durchgängig von einem allwissenden Standpunkt in der dritten Person geschrieben - zum größten Teil, aber nicht ausschließlich, aus Scarletts Sicht. Doch es ist von Anfang an klar,
daß dies Scarletts Geschichte ist, die in einer satten, melodramatischen Prosa und in einem raschen Tempo erzählt wird. Der einmal eingegangene Vertrag wird während des ganzen Buches aufrechterhalten.
Wenn mittendrin beispielsweise eine übersinnliche Begebenheit stattfinden würde, dann wäre der Vertrag gebrochen. Das würde nicht zu dieser Art von Buch passen. Oder wenn es eine lange Betrachtung über den Sinn des Lebens geben würde, oder wenn die Erzählung auf S. 482 plötzlich dazu übergehen würde, wie Rhett Butler in einer Seeschlacht kämpft, oder wenn die Situation plötzlich kafkaesk, absurd oder komisch würde, dann wäre der Vertrag gebrochen. Doch Margaret Mitchell liefert, was sie versprochen hat.
Kafka ist in seinen Büchern durch und durch kafkaesk. Im Prozeß ist er von Anfang an kafkaesk, was dem Vertrag entspricht, den Kafka mit seinen Lesern eingeht. Von Anfang an passieren merkwürdige Dinge. Gleich auf der ersten Seite steht ein fremder Mann in K.‘s Schlafzimmer. Und allein die Tatsache, daß der Protagonist keinen Namen hat, sondern einfach K. heißt, ist an sich schon merkwürdig. Der Prozeß ist in der dritten Person geschrieben von einem eingeschränkt allwissenden Standpunkt. Der Erzähler ist in dem Sinne eingeschränkt, daß er zwar weiß, was mit K. passiert, aber nicht, was es mit dem Gesetz, das die Handlung bestimmt, auf sich hat. Das würde
allerdings auch die Wirkung verderben, denn der Witz bei der Geschichte ist, daß die Wege des Gesetzes unergründlich sind. Der Roman ist in einem schroffen, sachlichen Stil geschrieben, der zu der Merkwürdigkeit der Geschichte paßt. Kafka hält seinen Vertrag mit dem Leser bis zum Schluß aufrecht. Rein formal ist das Buch in Kapitel unterteilt, von denen jedes eine eigene Überschrift trägt, als ob darin ein bestimmter Aspekt von K.‘s Leben untersucht würde.
Stephen Crane benutzt in Das rote Tapferkeitsabzeichen einen objektiven Standpunkt, das heißt eine distanzierte dritte Person, außer wenn aus der Sicht des Protagonisten
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