Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht
Kommunikation aus der Hand zu geben, sondern auch immer mehr Facetten unserer selbst.
Nehmen wir das Gedächtnis. In einem digitalen Gerät bezeichnet »Memory« eine binäre Sequenz, die eine verschlüsselte Information enthält. Die zwar begrenzte, aber stetig wachsende, gewaltige Speicherkapazität eines durchschnittlichen Computers geht heute in die Milliarden digitaler »Bits« – genug, um ganze Bibliotheken, Millionen Bilder und Wochen von Filmmaterial zu speichern.
Diese Art digitaler Datenspeicher ist dem menschlichen Gedächtnis in mancherlei Hinsicht überlegen. Das »Gedächtnis« des Computers bietet die vollständige, unveränderte und objektive Speicherung von allem, was man eingibt. Das Gespeicherte verändert sich nicht mit der Zeit oder wird gar fehlerhaft. Es kann ohne Verluste fast endlos verbreitet und kopiert oder auf Wunsch auch gelöscht werden. Es kann vollständig indexiert und rasch durchsucht werden. Man kann aus der Ferne darauf zugreifen und es in Sekundenbruchteilen um die Welt jagen, einzelne Inhalte unbegrenzt vermischen, ergänzen und aktualisieren.
In Computerbegriffen ist das menschliche Gedächtnis daher eine recht armselige Angelegenheit – aber gerade mit dieser Begrifflichkeit beurteilen wir in zunehmendem Maße unsere geistigen Fähigkeiten. Da verwundert es kaum, dass wir diese auf einmal für unzureichend oder nicht länger notwendig befinden. Von Telefonnummern über Fotografien bis hin zu Dokumenten und Tagebüchern speichern wir eine immer größer werdende Masse von Erinnerungen, die für unser Leben wichtig sind, in Maschinen – bloße Informationen, ja, aber auch Augenblicke großer Gefühle oder den privaten Austausch mit Freunden und Familienmitgliedern.
Ich bin in einem Alter, in dem viele meiner Freunde ihr erstes Kind bekommen. Wie ich festgestellt habe, ist dies eine Geschichte, die mein Handy deutlicher als jedes andere Gerät erzählt. Wenn ich die letzten paar Jahre gespeicherter Textbotschaften überfliege, finde ich sechs digitale »Geburtsanzeigen«, die innerhalb von Stunden oder gar Minuten nach dem Ereignis verschickt wurden. Sie ähneln sich so sehr, dass man dahinter eine Vorlage vermuten könnte: voller Name des Neuankömmlings, Zeit, Gewicht in Kilo und Gramm und ein angehängtes Foto.
So etwas ist natürlich nett. Beim Durchstöbern dieser alten Textbotschaften beschleicht mich aber auch ein unangenehmes Gefühl, weil ich weiß, warum ich sie gespeichert habe: Ohne sie aufzurufen, fallen mir die Namen und Geburtstage der meisten Erstgeborenen meiner besten Freunde nicht ein. Ich habe diese Botschaften beantwortet, manchmal auch eine Karte oder ein Geschenk geschickt – und das Ganze dann buchstäblich zu den Akten gelegt. Trotz der nachfolgenden Blogs, Facebook-Bilder und Netzwerk-Updates scheinen diese Neuankömmlinge keinen Platz in meinem Bewusstsein gefunden zu haben.
Ich kann mich an die Namen dieser Kinder auf dieselbe Art und Weise »erinnern«, wie ich Telefonnummern »kenne«: Die Information befindet sich in meinem Besitz. Aufzeichnungen wie diese zu führen, auf einem Gerät, das ich fast kontinuierlich eingeschaltet bei mir trage, erscheint mir äußerst sinnvoll. Es aber schlicht als »Gedächtnis« oder »Erinnerung« zu bezeichnen, birgt das Risiko eines grundlegenden Missverständnisses, was Erinnerungen für mich als menschliches Wesen bedeuten können – und welche Aspekte meines Ichs und meiner Erinnerungen nicht einmal den raffiniertesten technischen Geräten überlassen werden dürfen.
Selbst der umfassendsten Datenbank mangelt es beispielsweise an etwas, das jeder Mensch auf Erden für selbstverständlich hält: einer Geschichte. Wir sind die Produkte unserer Natur, aber auch der einzigartigen Erfahrungen, die uns unser gesamtes Leben lang formen. Wir mögen zwar erkennen, welche Teile unseres Gehirns für das Lang- oder Kurzzeitgedächtnis zuständig sind, ein eingebautes Erinnerungsmodul wie in einer Maschine fehlt uns jedoch.
Tatsächlich gibt es etwas Vergleichbares wie die menschliche Erinnerung außerhalb von Denken, Fühlen und Selbstbewusstsein überhaupt nicht. Was wir erleben, tun und lernen, wird zu einem Teil unseres Selbst. Wir internalisieren Ereignisse, Menschen und Gedanken; wir reflektieren, ändern unsere Meinung und bringen Dinge durcheinander, betrachten unsere Vergangenheit als fortlaufenden Strang, der bis in unsere Gegenwart reicht. Unsere echten Erinnerungen können wir ebensowenig auf
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