Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht
Schnellfeuer-Reflexivität einer dauerhaft geteilten Aufmerksamkeit oder der absoluten Fokussierung auf eine einzige Tätigkeit. Die eigentliche Herausforderung sind jene spontanen Tagträume, die man oft mit kreativen Eingebungen und innerem Frieden gleichsetzt.
Jene Art von Gedanken, die uns in der »Leerzeit« unseres Lebens überraschen – im Zug, im Bad, beim Spazierengehen, Umblättern oder, wenn wir aus dem Fenster schauen –, sind weder durch sorgfältige Vorbereitung »offline« noch durch die raffiniertesten digitalen Maschinen reproduzierbar. Es sind Augenblicke, die wir meistens dann erleben, wenn unser Leben gerade nicht bis auf die letzte Minute eingeteilt ist. Sie sind eigentümlich, individuell und zufällig, eine Art Freiheit, die der große britische Philosoph der Aufklärung, John Locke, in seinem Essay »Versuch über den menschlichen Verstand« als Zeit beschrieben hat, in welcher »Gedanken unseren Geist durchströmen, ohne jede Reflexion oder Berücksichtigung des Intellekts«.
Im Kontext dieses Kapitels – in dem es darum geht, die Kontrolle zu behalten und das Wesen unserer Aufmerksamkeit zu verstehen – lässt sich daraus eine Vorsichtsmaßregel ableiten: Alle Systeme und Strategien brauchen ein wenig Raum für Exzentrik. Damit unsere Gedanken ganz und gar die unseren sind, benötigen wir nicht nur die Freiheit von der Tyrannei missbräuchlich eingesetzter Werkzeuge, sondern auch von unseren eigenen Strategien und Anforderungen an uns selbst.
Während ich an diesem Buch gearbeitet habe, spürte ich oft die Macht dieses Bedürfnisses. Wenn ich längere Passagen auf Papier schreibe, was ich im Entwurfsstadium am liebsten tue, fließen die Worte in dem Bewusstsein, dass sie erst einen halben Satz lang existieren, bevor sie der Stift zu Papier bringt. Die mechanische Langsamkeit des Schreibens lässt sie mich nicht nur als Gedanken, sondern auch als Klänge oder Objekte fühlen, so dass ihr Erscheinen zu einem synästhetischen und sinnlichen Vergnügen wird. Wenn ich auf diese Weise konzentriert in ein herkömmliches Notizbuch schreibe, hilft mir das, die Prozesse des Schreibens und Tagträumens miteinander zu vermengen, was oft unerwartet geschieht: Wenn ich meine Gedanken einige Zeit habe schweifen lassen, fallen mir plötzlich neue Wendungen und Sätze ein.
Das ist vielleicht der Grund, warum ich mir in Büchern immer Notizen auf den Seitenrand mache: Es sind Texte, die ich mit mir herumtrage und gerne ohne Unterbrechung lese. Aus dem Prozess des Lesens erwächst die Inspiration. Wenn ich diese Bücher später wieder durchblättere, sind die Gedanken, die mir beim Lesen durch den Kopf geschossen sind, in krakeliger, schräger Handschrift auf den Seitenrändern festgehalten.
Notizbuch und Randnotizen des Autors: ein etwas unleserliches Angebot, die Aufmerksamkeit ein bisschen schweifen zu lassen.
( Mein Notizbuch © Antony Irvine 2011)
Diese Handlungen – das Lesen mit einem Stift in der Hand, das Mitführen eines Notizbuchs in meiner Tragetasche – gestatten es mir, meine Gedanken schweifen zu lassen. Ich betrachte sie mittlerweile als luxuriöse, wenngleich notwendige Prozesse, damit meine Arbeit sowohl Präzision erlangt als auch mir allein gehört.
Wenn ich hingegen am Computer schreibe, geht es mir mehr um die sprachliche Genauigkeit, einen sorgfältigen Textaufbau und eine schlüssige Argumentation: Auch diese Dinge sind absolut notwendig, aber die damit verbundene Arbeitssituation ist weitaus anfälliger für die Versuchungen geteilter Aufmerksamkeit und des Internets. Wenn ich an meinem PC sitze und tippe, passiert es leicht, dass ich mich plötzlich ablenken lasse und einen noch nicht zu Ende gedachten Rückstau anderer Ideen aus dem Fokus verliere. Solange ich editiere, tippe, recherchiere und ab und zu nach meinen E-Mails schaue, kann ich die Augen vor der Wahrheit verschließen. Dann stehe ich vom PC auf, und das wirklich Wichtige beginnt sich in den Vordergrund meiner Aufmerksamkeit zu drängen.
Meine persönlichen Arbeitsweisen sind kein Maßstab oder Ideal. Sie funktionieren auch bei mir nicht immer, geschweige denn bei anderen. Ich hoffe jedoch, dass ich einen Eindruck vermitteln konnte, was es bedeuten kann, wenn man verhindern möchte, dass die Logik digitaler Werkzeuge die Logik des Denkens diktiert: Wie wir uns durch verschiedene Zeitmodelle und -Texturen Freiräume schaffen können, anstatt uns auf eine einzige Haltung zu versteifen.
Wir müssen lernen, uns
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