Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht
Beliebtheitsskala, die wesentlich genauer und umfassender ist als jede Bestsellerliste: eine, die in ständig weiterentwickelter Form mit beinahe jeder erdenklichen Suchanfrage erscheint, die mit einer Suchmaschine ausgeführt werden kann.
Es gibt praktisch kein Wort und keinen Satz in einer beliebigen Sprache, für die eine moderne Suchmaschine nicht Resultate liefert und diese in einer Rangfolge darstellt. Dank Diensten wie Amazon gibt es so gut wie kein kulturelles oder kommerzielles Produkt mehr, dessen Verkaufszahlen von eins bis viele Millionen nicht gleich mit abgebildet werden. Nur einen Mausklick entfernt finden sich zusätzlich noch die Bewertungen und Meinungen früherer Konsumenten. Nach wie vor schätzen wir kritische, widerstreitende Meinungen. Doch wenn jeder seine Meinung nicht nur bilden, sondern auch verbreiten kann, wird dieser individuell behauptete Sachverstand immer dürftiger und ist in vielen Fällen schlicht unbrauchbar.
Man denke daran, was es genau bedeutet, im Internet nach etwas zu suchen. Es fällt nicht schwer zu akzeptieren, dass Informationen wie die Höhe eines Berges oder die Einwohnerzahl eines Landes einen empirischen Wert darstellen. Zunehmend jedoch haben auch Fragen wie »War Picasso der größte Künstler des 20. Jahrhunderts?« eine empirische Färbung angenommen. Frag einfach das Internet, und die Antworten der Welt tun sich dir auf, sauber geordnet nach ihrer Relevanz. Das geballte Wissen steht zur freien Verfügung: nicht nur in Gestalt einer einzigen Antwort, sondern vielmehr als definitive Rückmeldung auf die implizite Frage: »Was haben die Leute alles darüber gesagt, dass Picasso der größte Künstler des 20. Jahrhunderts gewesen sein soll – und was davon ist maßgebend?«
Diese Formulierung mag etwas bemüht klingen, aber es ist exakt die Art von Beurteilung, bei der wir traditionell den Kritikern vertraut haben; und nicht nur den Kritikern, sondern auch allen anderen Menschen mit einer Korrektivfunktion, von Herausgebern zu Journalisten und Lehrern. Jahrhundertelang galt, dass niemand auch nur einen Bruchteil des Weltwissens alleine besitzen, konsumieren oder gar sinnvoll nutzen konnte. Deshalb haben wir uns stets an andere gewandt, wenn es darum ging, Materialien für uns auszuwählen und zu empfehlen – und vorab zu entscheiden, was überhaupt langfristig Aufnahme in den Wissenskanon finden sollte.
Dieser Selektionsprozess findet heute nicht mehr statt, bevor etwas in die Welt hinausgeschickt wird. Vielmehr ist er eine laufende, ausgelagerte Angelegenheit. Vor den Augen der Welt tummelt sich heute alles und jeder, frei von allen traditionellen Korrektiven und gefiltert nur durch den Massengeschmack. Tatsächlich ist dies der Pulsschlag der meisten digitalen Geschäftsmodelle. Statt zu selektieren und dann zu veröffentlichen, veröffentlicht man zuerst und reagiert dann auf die Selektionsprozesse der Welt. Dabei werden unablässig die Dinge maximiert, die den Publikumsgeschmack direkt treffen, und wenig Zeit wird auf jene verschwendet, die dies nicht tun.
3.
Wenn dies eine Autoritäts- und Wertekrise ist, dann in vielerlei Hinsicht eine außergewöhnlich harmlose, nämlich die Öffnung einst abschreckender Wissensbastionen. Es gibt jedoch zwei Bereiche, die all jenen Sorgen bereiten, die mehr anstreben, als sich nur von dieser neuen kulturellen Richtung treiben zu lassen: das geistige Leben und die Wirtschaft.
In intellektueller Hinsicht befürchtet man eine Abflachung: die Auflösung von Kompetenz in einen Bodensatz aus Amateurhaftigkeit und Eigenwerbung. Autoren wie der amerikanische Schriftsteller Andrew Keen haben argumentiert, dass (wie im Untertitel seines 2007 erschienenen Buches Die Stunde der Stümper formuliert) das Internet unsere Kultur zerstöre. Kultur wird hierbei als etwas verstanden, das von anspruchsvollen Korrektiven gefördert und geschützt wird, in Zusammenarbeit mit Intellektuellen und Künstlern.
Von Büchern und Zeitschriften zu Musik, Kino und politischem Diskurs, so Keen, beraube der Überzug der digitalen Technologie das Außergewöhnliche und Bedeutsame seiner Kapazität, öffentliche Wirkung zu entfalten oder einen Fokus zur Diskussion zu bieten. Stattdessen scherten wir Triviales und Profundes über ein und denselben Kamm – und hielten uns mit den am leichtesten verdaulichen Happen am längsten auf.
In Keens Darstellung tritt eine moderne Variante alter Demokratisierungsängste zutage. Ersetze man den Filter des
Weitere Kostenlose Bücher