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Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht

Titel: Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Chatfield
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abgeschmettert. Wie die Welt das Ende von Davis’ Geschichte erlebte, unterschied sich jedoch grundlegend von deren Anfang. Von einer in letzter Minute erfolgten Anrufung des Obersten Gerichts und einem von 600 000 Menschen unterzeichneten Gnadengesuch (darunter der Papst und ein ehemaliger FBI-Direktor) waren die letzten Tage und Stunden in Davis’ Leben nicht nur ein Dauerbrenner in den Fernsehnachrichten, sondern sorgten weltweit für Aufruhr, Entrüstung und Wut.
    An meinem Schreibtisch in London konnte ich zusehen, wie auf Twitter die Worte schneller über den Bildschirm tickerten, als ich sie lesen konnte: viele Millionen Worte Hunderttausender Teilnehmer, von Salman Rushdie (»Amerika ist heute Abend ein bisschen hässlicher geworden«) und Alec Baldwin (»Die Todesstrafe in den USA ist in den Augen großer Teile der Welt eine Schande für uns«) bis hin zu denjenigen, die wahrscheinlich nie ein Buch oder einen Film veröffentlichen würden, aber gleichberechtigt ihre Meinung äußerten.
    In der Woche darauf schrieb der Autor Andrew O’Hagan im London Review of Books : »Die Wachsamen und die Schreiber sind eins geworden … so funktioniert die Nachrichtenwelt heute: Es gibt keine Verzögerung zwischen dem Ereignis und seiner Rezeption, zwischen der Tat, dem Wort und der Verbreitung des Wortes.« Bei aller Kakophonie war das, was sich auf meinem Bildschirm abspielte, keinesfalls zusammenhanglos oder Ausdruck einer Pöbelherrschaft. Es las sich vielmehr, als machte sich die Welt Gedanken, gefiltert durch den Blick derer, deren Ansichten ich vertraute und respektierte.
    Neben der Flut von Twitter-Kommentaren folgte ich den Links und Empfehlungen der etwa hundert Menschen, die ich seit zwei Jahren ganz bewusst beobachte: Es handelt sich um Freunde und Kollegen, Autoren, Richter, Künstler, Unternehmer, Ärzte und Lehrer. Über diese wiederum gelangte ich zu Blogs und Zeitungsartikeln, zu Bildern, Debatten und Kommentarketten, zu Foren, Petitionen und Seiten von Aktivisten. Das Ergebnis war vielschichtig, aber nicht zusammenhangslos. Geleitet von jenen, denen ich vertraue, sah ich zu, wie sich die Debatte entspann und ausweitete. Die besten Einsichten, die ich fand, gab ich wiederum an diejenigen weiter, die mir folgen.
    Es fanden sich keine abschließenden Worte, kein sau berer Schlussstrich unter ein traditionelles »Nachrichten ereignis«. Als ich Anfang des Folgemonats bei Twitter zum Stichwort Troy Davis zurückkehrte, erschien dort immer noch mindestens ein Update pro Minute, was weniger von den Nachwirkungen des tatsächlichen Ereignisses zeugte als davon, wie dieses Ereignis weitergelebt wurde – wie es zum Bestandteil individueller Leben auf der ganzen Welt geworden war.
    Es gab Schilderungen der Beerdigung; alte Argumente, Neuanfänge und Kontroversen; Beleidigungen, Beschimpfungen und die fortlaufenden Echos der bemerkenswertesten Kommentare aus den vorangegangenen Tagen und Monaten.
    Es wurde behauptet, solch massenhafte Äußerungsmöglichkeiten seien dazu verdammt, von Gerüchten, Halbwahrheiten und Einzelinteressen dominiert zu werden. Der amerikanische Schriftsteller und Wissenschaftler Cass Sunstein beschrieb die Zukunft der Massenbeteiligung als »Echokammer« gleichgesinnter Menschen, die ihre eigenen Ansichten und Vorurteile bestärkten.
    Das erinnert an Andrew Keens Kritik an der digitalen Kultur im Allgemeinen und an ihrem Potenzial zu rascher Befriedigung, Teilnahmslosigkeit und Verwässerung von Wahrheit und Sachwissen – Warnungen, die man auf jeden Fall ernst nehmen sollte. Sie als volle Wahrheit zu akzeptieren erscheint mir hingegen eine zu pessimistische und zu passive Sichtweise – und eine Fehleinschätzung der individuellen Handlungsfähigkeit, die selbst innerhalb der größten Online-Kollektive existiert.
    Was die Autorität und einen durch kritische Betrachtung statt durch statistische Analysen definierten Kompetenzbegriff angeht, lässt sich die Uhr nicht in die Zeit der vordigitalen Korrektive zurückdrehen, die über den Massengeschmack wachten – und ihn formten. Es gelingt uns jedoch in zunehmendem Maße, diese Art Urteilsvermögen außerhalb monolithischer Suchmaschinen und Datenbanken zu finden und zu fördern; wir verbreiten und konsumieren also nicht nur Belanglosigkeiten, sondern entdecken auch Beweise dafür, dass es abseits der Masseneuphorie noch andere Werte gibt, die für die vielen kleineren und größeren Nutzergruppen von Bedeutung sind.
    Darüber hinaus

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