Wie man im digitalen Zeitalter richtig aufblueht
Reihenfolge konsumiert werden. Wie es scheint, können nur die Starken überleben. Ihre Stärke wird aber nicht mit kritischem Blick und anhand ihrer Tragfähigkeit für die Zukunft beurteilt, nicht einmal im Falle von Werken, die auf ihrem Feld schon lange genug Bestand haben, um als Klassiker zu gelten. Vielmehr ist es eine Stärke, die von der neuen Autorität einer messbaren Mehrheit abgeleitet wird.
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Wenn das alles wäre, was unser Online-Verhalten ausmacht, dann wäre die Gegenwart in der Tat unerträglich für all jene, die sich nicht nur treiben lassen wollen. Ich glaube jedoch, dass die Ausführungen von Keen und Levine eher als Warnungen denn als Feststellungen unumkehrbarer Zustände zu verstehen sind. Mag sein, dass viele traditionelle Geschäftsmodelle dem Untergang geweiht sind, doch werden unsere etablierten Begriffe von Kompetenz, kritischer Sachkenntnis und kreativer Intuition nicht einfach auf der Strecke bleiben.
Algorithmen können menschliches Verhalten in unmenschlichen Dimensionen zusammenfassen. Das ist die Grundlage ihres Nutzens und ihrer Macht. Gleichzeitig ist der Verlust des individuellen menschlichen Maßstabs aber auch ihr größtes Manko – und stellt eine der wichtigsten Ursachen dafür dar, dass seit der Gründung von Facebook im Jahre 2004 und von Twitter 2006 diese beiden Dienste allein einen Zulauf von insgesamt über einer Milliarde Nutzer hatten. Abermals sind die Zahlen gewaltig. Doch stützen sich diese jüngsten digitalen Entwicklungen ebenso auf das Bedürfnis nach Intimität und Individualität wie auf die Macht der Mehrheit: Der Internetnutzer fühlt sich nicht mehr als gesichtsloser Konsument der Massenkultur, sondern als Individuum, das an der kulturellen und individuellen Massenproduktion aktiv beteiligt ist.
Im September 2010 beschrieb der amerikanische Autor und leitende Redakteur der Zeitschrift Atlantic , Alexis Madrigal, den Internetdienst Twitter als »eine Art menschlicher Empfehlungsmaschine, in welcher ich selbst der Algorithmus bin«. Das ist eine der beziehungsreichsten Erklärungen dafür, warum die sozialen Medien die Dynamik des Internets so schnell und so dramatisch verändert haben. Sie sprechen ein bestimmtes Bedürfnis an, das Algorithmen alleine nicht befriedigen können: die Möglichkeit, sich zu äußern und anderen zuzuhören, und zwar aus der einzigartigen Autoritätsposition heraus, die jeder von uns einnimmt – als Autorität an unserem eigenen Platz in der Welt.
Heute sind wir alle Sendungsmacher und Kommentatoren, Tagebuchschreiber, Talkmaster, Kritiker, Kummertanten, Voyeure und Vollzeitpublizisten in eigener Sache. Die Schlüsselfrage ist also, wie gut wir diese Rollen auszufüllen vermögen. Wodurch entsteht eine Kultur der Beteiligung, in der sich Werte, die wir mit freier Entfaltung assoziieren, positiv entwickeln, anstatt zu ersticken? Und welchen Raum bietet sie denjenigen, die gleichermaßen über qualitative und quantitative Unterschiede sprechen möchten?
Bei der Beantwortung dieser Fragen haben wir die besten Erfolgsaussichten, wenn es uns gelingt, jene Prinzipien auf das 21. Jahrhundert anzuwenden, die seit jeher die Triebfeder eines sinnvollen, kritischen Diskurses sind: Respekt nicht nur vor der Autorität selbst, sondern vor den Prinzipien der Streitkultur, eine klar formulierte Selbstwahrnehmung und der ernsthafte Wunsch zu lernen.
Erinnern wir uns, welche Wirkung die Dynamik dieser Beteiligung erst kürzlich im Kontext eines düsteren Ereignisses im US-Bundesstaat Georgia entfaltet hat: der Hinrichtung eines des Mordes für schuldig befundenen Mannes durch eine Giftspritze. Am 21. September 2011 wurde der 42-jährige Troy Davis für ein Verbrechen getötet, das 22 Jahre zurücklag: den Mord an einem Polizeibeamten in Savannah, Georgia, im August 1989.
Während der zwei Jahrzehnte zwischen dem Mord und der Hinrichtung hielt Davis seine Unschuldsbeteuerung aufrecht, unterstützt von einer wachsenden Bandbreite an Menschenrechtsgruppierungen, öffentlichen Persönlichkeiten und politischen Führungskräften. Die Diskussionen um den Fall erhitzten sich am Fehlen der Mordwaffe, der Tatsache, dass sieben von neun Zeugen der Anklage nacheinander ihre Aussagen widerriefen, Hinweisen auf Zwangsmittelanwendung durch die Polizei und der Möglichkeit, dass der wichtigste Zeuge gegen Davis selbst der Mörder sein könnte.
Davis’ Hinrichtung wurde dreimal verschoben, doch schließlich wurden alle Gnadengesuche und Petitionen
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