Wie man leben soll: Roman (German Edition)
so unattraktiv. Man muss sie eine Weile kennen, um ihre Reize zu entdecken. Sie hat ein scharf geschnittenes Gesicht und trotz ihrer Magerkeit eine kompakte Figur. Ihre Nase ist zu lang, ihr Haar meist fettig, und ihre Füße und Hände sind so riesig, dass man nicht umhin kann, sich vorzustellen, welche körperlichen Vorzüge sie ihrer Theorie gemäß als Mann aufweisen würde. Schön ist sie nicht. Aber es gibt Situationen, in denen man fast jeder Frau erotische Ausstrahlung zubilligt.
Diese Erkenntnis trifft einen nach dem vierten Arbeitstag als Taxifahrer morgens um sechs. Wenn Inge im Halbschlaf nahezu nackt in die Küche kommt, um sich ein Glas Mineralwasser einzugießen, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass man gewisse männliche Regungen verspürt. Vorausgesetzt, man ist Taxifahrer und chauffiert zumindest einmal am Tag eine schöne Frau.
Wenn man ein paar Nächte hintereinander Taxi gefahren ist, bedauert man allmählich, dass man nur noch selten Gelegenheit hat, die Sonne zu sehen. Wird man nicht vom heimwerkenden Nachbarn gestört, schläft man bis nach drei. Halb bewusstlos nimmt man ein zweites Frühstück zu sich. Kurz vor fünf wird man vom Tagfahrer abgeholt. Da sieht man die Sonne. Um neun wird es dunkel. Dann fährt man durch die Nacht. Morgens um fünf hat man nicht viel vom Licht. Um sechs geht man zu Bett.
– Morgen kann ich nicht.
– Morgen musst du aber.
– Ich habe keine Zeit.
Hans-Peter seufzt. Im Hintergrund hört man Stimmen und das Klirren von Gläsern.
– Charlie, ich habe zu wenig Fahrer. Dieser Arsch von Achmed ist mir ausgefallen, und sein Freund kommt sowieso schon lange nicht mehr.
– Ich kann auf keinen Fall.
– Du bist mein bester Fahrer!, säuselt Hans-Peter. So schnell wie du hat es noch keiner kapiert. Du hast sie alle abgeschossen. Lass mich nicht im Stich!
– Ich kann wirklich nicht.
– Jetzt hör mir mal zu! Wer hat dir den Kurs gezahlt, wer hat dir danach das Geld gegeben? War das ich? Wer hat dir gleich am zweiten Tag ein Akonto zugestanden? War das ich, du Kröte? Und du hast jetzt keine Zeit für mich?
– Ist ja gut, ich mach’s. Schweigen im Hörer. Offenbar nimmt Hans-Peter einen Schluck.
– Soll ich vorbeikommen und dich ins Taxi setzen?
– Ich mache es.
Wieder Stille.
– Soll ich vorbeikommen und dich ins Taxi setzen?
– Ist nicht nötig, tut mir leid. Schluckgeräusche.
– Um fünf bist du im Eisenhorn.
– Schon unterwegs, Hans-Peter.
Merke: Schweigen kann etwas sehr Bedrohliches sein.
Da man im Gegensatz zu Mirko, der fährt, wann er will, nicht in der Lage ist, dem Drängen Hans-Peters etwas entgegenzusetzen,verwandelt man sich binnen weniger Wochen in einen hauptberuflichen Taxichauffeur. Nach außen hin gibt man dies als eigenen Entschluss aus, man brauche das Geld, die Arbeit mache Spaß.
Laura ist begeistert vom Eifer, mit dem man sich in seinen neuen Job stürzt. Sie sagt, es sei auch Zeit geworden. Man müsse für sich selbst Verantwortung übernehmen. Und dazu gehöre eben das Finanzielle.
– Glaubst du, es ist schlimm, dass ich nicht mehr zur Uni gehe?, fragt man sie.
Laura zuckt die Schultern.
– Schatz, du musst arbeiten wie jeder andere auch.
Auch wenn man das nicht gern tut, sollte man ihr zustimmen, da man in Wahrheit nicht viel über die alten Pläne nachdenkt. Kunstgeschichte, pah. Museumsdirektor? Absurd. Die Träume von Arbeit bei oder mit einer Band? Träume. Man sollte nicht zu lang darüber sinnieren. Kommt Zeit, kommt Rat. Um so mehr fragt man sich, wie es mit der Beziehung weitergehen soll.
Man arbeitet viermal die Woche je zwölf bis vierzehn Stunden. Wann trifft man den anderen? Im Augenblick stellt diese Distanz kein Problem dar. Der Job ist neu, man hat viele Eindrücke zu verarbeiten. Doch geht das auf Dauer gut?
Wenn man zu dieser Überlegung vorgedrungen ist, fragt man sich, wie andere Leute, die einen Beruf ausüben, damit umgehen. Tatsächlich birgt die Ausübung des Tagwerks das Risiko des Scheiterns jeder Partnerschaft, und die Tatsache, dass die Menschheit seit den Zeiten der industriellen Revolution nicht ausgestorben ist, legt beredtes Zeugnis ab von der menschlichen Fähigkeit, sich selbst in den Sack zu lügen.
An dem Abend, an dem man meint, den Wagen und die Situation im Griff zu haben, fährt man bei Mutter vorbei. Wie nebenbei legt man den Autoschlüssel mit dem Fuchsschwanz aufden Tisch. Sie rührt weiter ihren Kaffee um
Weitere Kostenlose Bücher