Wie man leben soll: Roman (German Edition)
viel trinken zu dürfen wie die anderen.
Außerdem hat man Angst. Man will nicht Taxi fahren. Vielleicht wird man überfallen? Am liebsten würde man sich krank melden. Aber Mirko ist ja auch da und sieht, dass man nichtkrank ist, und Hans-Peter macht nicht den Eindruck, als würde er eine legere Arbeitsauffassung tolerieren.
Am ersten Arbeitstag staunt man darüber, was für ein einschüchterndes Gefühl es sein kann, einen Mercedes durch die Stadt zu steuern.
Kaum ist Hans-Peter außer Sichtweite, parkt man den Wagen in einer Nebenstraße. Das Herz hämmert. Man ist verschwitzt, man hat Kopfschmerzen. Tief atmet man durch. Was, wenn man einen Unfall hat? Muss man den Schaden selbst bezahlen? Alles ist so groß! Jeder Passant ein potenzieller Kunde, eine potenzielle Gefahr!
Man kann sich nicht entschließen, einen Standplatz anzufahren. Man dreht an den Knöpfen des Autoradios. Überall wird Feiertagsprogramm gespielt. Man fährt sich durchs Haar, putzt die Brille, lockert den Hosengürtel, macht den Knopf auf. Man erwägt, nach Hause zu fahren und erst einmal zu weinen oder zu verschnaufen.
Ein Mann springt unvermutet in den Wagen. Nennt eine Adresse. Mechanisch startet man den Motor. Die Hände zittern. Wo soll diese Straße sein?
Man erlebt ein Blackout. In diesem Augenblick würde man nicht einmal nach Hause finden.
– Tut mir leid. Mein erster Arbeitstag. Wo, sagen Sie …
Er lacht, winkt ab und erklärt es. Die Fahrt dauert zwei Minuten, so nah ist es. In dieser Zeit verschaltet man sich dreimal. 37 kostet es, 40 gibt er. Verschwitzt und abgeschlagen stellt man sich an einen Standplatz, an dem schon vier Taxis warten.
Man rechnet nach. Von den 37 Schilling bekommt Hans-Peter sechzig Prozent. Demnach hat man knapp fünfzehn plus drei Schilling Trinkgeld verdient. In einer Stunde. Das ist nicht einmal der Gegenwert eines Espresso.
Wenn man einen Espresso in der Stunde verdient, beginnt man mit seinem Schicksal zu hadern. Zumal sich zur selben Zeit die Freunde den Rausch vom Vortag ausschlafen.
Um zehn hat man einen Umsatz von 400 Schilling. Um zwölf 650. Um zwei 920. Um vier 920.
Nachts zwei Stunden am Standplatz herumzustehen zehrt. Auch wenn man den
Schatz im Silbersee
dabeihat.
Um fünf Uhr früh ist die Schicht zu Ende. In vierzehn Stunden hat man tausend Schilling umgesetzt, also 400 plus Trinkgeld verdient. Der Tagschichtfahrer, der einen nach Hause bringt, verspricht, es werde besser werden. Man müsse sich erst einlernen. Außerdem sei im Juni wenig los.
In der Küche türmt sich dreckiges Geschirr. Das Fenster des Backrohrs ist mit Käsespritzern verklebt, am Boden liegt ein zerbrochener Teller. Walter muss in der Nacht Hunger bekommen haben. Dennoch bereitet man sich Frühstück. Man schiebt Melonenschalen und Schinkenfetzen zur Seite und legt die Zeitung auf den klebrigen Tisch.
Wenn man morgens um halb sechs nach der ersten Taxischicht in der Küche sitzt, ist man unverständlicherweise nicht müde. Man schmiert sich Brote, trinkt Kaffee, liest die Sportberichte. Durch die halb geöffnete Tür dringt Walters Schnarchen. Er schläft nie bei geschlossener Tür. Vor dem Fenster zwitschern Vögel. Es ist so hell, dass man die Jalousien ein Stück herunterzieht. Der Tag, die Zeit, alles ist so rätselhaft klar.
Aufgekratzt schlendert man durch die Wohnung. Man putzt sich die Zähne. Lauscht an Inges Tür. Stille. Auch Walter hat aufgehört zu sägen. Man kehrt zurück in die Küche. Nimmt einen Schluck Kaffee. Nach dem Zähneputzen schmeckt er bitter. Man fängt eine Fliege, um zu beweisen, wie fit man ist. Man entlässt sie durch das Fenster in die Freiheit. Das Fenster bleibt offen. In der Küche stinkt es nach Abfall.
Im eigenen Zimmer sollte man nicht auf Lauras Foto blicken, das auf dem Schreibtisch steht. Wenn man es doch tut, fühlt man ein Ziehen im Magen und muss sich fragen, was sie wohl gerade macht. Anzunehmen ist, dass sie schläft, und es steht nur zu hoffen, nicht mit Boban.
Wenn man gedankenverloren Schubläden und Schranktüren öffnet und dabei den schwarzen Hut findet, schüttelt man den Kopf in der Erkenntnis, lange Zeit wie ein Dorftrottel herumgelaufen zu sein. Aber jetzt, jetzt verdient man eigenes Geld und trägt keinen idiotischen Hut mehr. Man ist Taxifahrer.
Um sechs Uhr dreißig dunkelt man das Fenster ab, legt sich ins Bett und schläft sofort ein.
Um neun Uhr früh schaltet der Nachbar die Bohrmaschine an.
Inge ist gar nicht
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