Wie man mit einem Lachs verreist
Postkutschenfahrt hätte der Film keinen Sinn. „L'avventura“ von Antonioni besteht nur aus toten Zeiten: die Leute gehen, kommen, reden, verlieren sich und finden sich wieder, ohne daß irgend etwas geschieht. Aber der Film will uns ebendies sagen, daß nichts geschieht. Er mag uns gefallen oder nicht, aber genau das ist seine Aussage.
Ein pornographischer Film dagegen sagt uns, um den Erwerb der Kinokarte oder der Videokassette zu rechtfertigen, daß ein paar Leute sich sexuell paaren, Männer mit Frauen, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, Frauen mit Hunden oder Pferden (ich mache darauf aufmerksam, daß es keine
pornographischen Filme gibt, in denen Männer sich mit Stuten oder Hündinnen paaren: warum nicht?). Das alles würde ja noch angehen, aber in diesen Filmen wimmelt es von toten Zeiten.
-7 9 -
Wenn Gilberto in Mailand, um Gilberta zu vergewaltigen, von der Piazza Cordusio bis zum Corso Buenos Aires fahren muß, so zeigt uns der Film, wie Gilberto, am Steuer sitzend, Ampel für Ampel die ganze Strecke zurücklegt.
In pornographischen Filmen wimmelt es von Leuten, die in Autos steigen und Kilometer um Kilometer fahren, von Paaren, die eine unglaubliche Zeit damit verbringen, sich in Hotels an der Rezeption einzuschreiben, von Herren, die minutenlang in aufwärtsfahrenden Aufzügen stehen, bevor sie endlich ins Zimmer gehen, von Mädchen, die allerlei Liköre schlürfen und mit Hemdchen und Spitzenhöschen herumtändeln, ehe sie
einander gestehen, daß sie Sappho lieber als Don Juan mögen.
Um es deutlich und derb zu sagen: Bevor man in
pornographischen Filmen einen richtigen Fick zu sehen kriegt, muß man einen Werbespot des städtischen Verkehrsreferats über sich ergehen lassen.
Die Gründe liegen auf der Hand. Ein Film, in dem Gilberto andauernd Gilberta vergewaltigt, von vorne, von hinten und von der Seite, wäre nicht zu ertragen. Weder physisch für die Akteure noch ökonomisch für den Produzenten. Und er wäre es auch nicht psychologisch für den Zuschauer. Denn damit die Übertretung als solche kenntlich wird, muß sie sich von einem Hintergrund von Normalität abheben. Die Darstellung der Normalität aber ist nun eine der schwierigsten Aufgaben für jeden Künstler - während die Darstellung des Abweichenden, des Verbrechens, der Vergewaltigung, der Folter ein
Kinderspiel ist.
Deswegen muß der pornographische Film die Normalität
darstellen - die eben unverzichtbar ist, damit die Übertretung Interesse weckt -, und zwar so, wie jeder Zuschauer sie versteht. Deswegen sieht man, wenn Gilberto den Bus nehmen und von A nach B fahren muß, Gilberto, wie er den Bus nimmt, und den Bus, wie er von A nach B fährt.
Das irritiert den Zuschauer oft, weil er ständig unerhörte Szenen sehen will. Aber er täuscht sich. Er würde es gar nicht aushalten, anderthalb Stunden lang unerhörte Szenen zu
sehen. Darum sind die toten Zeiten unverzichtbar.
-8 0 -
Ich wiederhole also. Man gehe in irgendein Kino. Wenn die Protagonisten des Films länger brauchen, um sich von A nach B zu begeben, als man es sehen möchte, dann handelt es sich um einen Pornofilm.
(1989)
Wie man Eis ißt
Als ich klein war, kaufte man den Kindern zwei Arten von Eis, die es bei jenen weißen Wägelchen mit silberglänzenden
Deckeln gab: entweder die Tüte zu zwanzig oder die Waffel zu vierzig Centesimi. Die Tüte zu zwanzig war sehr klein und paßte genau in eine Kinderhand, sie wurde erzeugt, indem man das Eis mit der halbkugelförmigen Eiszange aus dem Behälter holte und auf den eßbaren Waffelkegel stülpte. Die Großmutter riet, nur den oberen Teil dieses Kegels zu essen und die Spitze wegzuwerfen, da sie vom Eisverkäufer angefaßt worden war (aber der untere Teil war der beste und knusprigste, weshalb man ihn heimlich aß, nachdem man ihn nur zum Schein
weggeworfen hatte).
Die Waffel zu vierzig wurde mit einer ebenfalls
silberglänzenden Spezialmaschine hergestellt, die zwei runde Waffelscheiben gegen einen flachen Eiszylinder preßte. Man fuhr mit der Zunge so lange zwischen die Scheiben, bis sie den in der Mitte verbliebenen Rest nicht mehr erreichte, dann aß man das Ganze mitsamt den Scheiben auf, die inzwischen
weich und von Nektar durchtränkt waren. Hier hatte die
Großmutter keine Ratschläge zu geben: Theoretisch waren die Waffeln nur von der Maschine berührt worden, praktisch hatte der Eisverkäufer sie zwar angefaßt, um sie zu überreichen, aber es war unmöglich, die infizierte Zone zu
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