Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Berührungspunkte beider Bücher beschränkt. So zum Beispiel auf die Zeit der Okkupation, die beiden Romanen als Hintergrund dient, oder auf die beiden Helden, die Kinder Max und Mimile, die Céline in ihrer Version von
La Java brune
wohlweislich beibehalten hat:
»[Der Moderator] ließ nicht locker: Er brannte ganz offensichtlich darauf, über den Roman zu reden. Gastinel herrschte ihn an, ließ sich dann aber nach einem herzzerreißenden Seufzer trotzdem herab, ein paar Worte zum Buch zu sagen. […] Man kam also überein, zwei drei Kleinigkeiten – keine kompromittierenden, immer mit dieser manischen Sorge, die Handlung nicht zu verraten – über diesen Max und diese Mimile zu sagen, dann lenkte der füllige Autor das Gespräch autoritär, als wäre er der Moderator dieser Mini-Debatte, auf die Pariser Okkupation im allgemeinen, auf die Razzien, die Restriktionen, die Schlangen vor den kärglich ausgestatteten Läden, die Ausgangssperre, die an den Wänden angeschlagenen Geisellisten, die anonymen Denunziationen und die ganze Litanei des täglichen Elends während dieser vier nicht enden wollendenJahre. Womit er nicht am Buch vorbeigeredet hatte, denn diese düstere und beklemmende Atmosphäre war tatsächlich der allgegenwärtige Hintergrund des Werks.«[ 6 ]
Sich auf Allgemeinplätze über die beiden Kinder oder den gemeinsamen Hintergrund der beiden Werke zu beschränken, ist das Einzige, was Gastinel tun kann. Denn in den seltenen Momenten, in denen das Gespräch etwas konkreter wird, keimt sofort das Missverständnis zwischen dem Moderator und Dochin auf, und Gastinel muss eingreifen und mehrdeutige Ausdrücke einwerfen, in denen sich beide Seiten wiedererkennen können:
»– Sie werden sich Feinde machen.
– Umso besser, wir prügeln uns gerne. Jedenfalls können wir uns seit unserem Erfolg nicht über Mangel an Feinden beklagen. Wir können schon jetzt kaum alle berücksichtigen.
– Die Anspielungen auf Herr oder Frau Sowieso …, Funktionsträger der damaligen Zeit…, gehen manchmal sehr weit …
– Das seh ich aber gar nicht so, sagte Dochin. Sie haben nicht genau gelesen.
– Nein, wir greifen die Leute nie wirklich an, sagte Gastinel. Es sind höchstens …, sagen wir, kleine Sticheleien.«[ 7 ]
Gastinel sieht sich hier mit dem Problem konfrontiert, dass er Ausdrücke finden muss, die sowohl zu dem Buch passen, das Dochin gelesen hat – da er es geschrieben hat – und das der Moderator nicht kennt, als auch zu dem Buch, dass dieser in der Hand hat und von dessen Existenz Dochin nichts weiß. Und Dochins Manuskript beabsichtigt nicht, bekehrte Kollaborateure in Schwierigkeiten zu bringen, während das von Céline einen echten Angriff auf ihre ehemaligen Komplizen darstellt. Der Ausdruck »kleine Sticheleien« ist eine Kompromissbildung, im Freud’schen Sinn, zwischen den beiden Büchern, von denen die Sendung gleichzeitig spricht. So schreibt Gastinel live vor Millionen Fernsehzuschauern die Bruchstücke eines gemeinsamen Buches, auf das sich beide Parteien einigen können, weil jeder in ihm sein eigenes Werk wiedererkennt.
∗
Doch der Moderator der Fernsehsendung ist nicht der Einzige, der Schwierigkeiten hat, mit Dochin ein kohärentes Gespräch zu führen. Dasselbe gilt für Céline und die anderen Kritiker, die mit ihm ständig von einem Buch reden, in dem er sich kaum wiedererkennen kann, da er es nicht gelesen hat.
Céline kennt zwar zu ihrem Unglück Dochins Buch, da sie gezwungen war, es jeden Tag abzutippen, doch sie kann ihm nicht sagen, was sie wirklich darüber denkt, und muss sich dazu durchringen, sich mit ihm über ein imaginäres Buch zu unterhalten, das er nur mit Mühe als seines erkennt. Von daher auch seine Verblüffung, als Céline ihn beim Abschreiben des Manuskripts mit Lob überhäufte, ein Lob, dasihn umso weniger zu betreffen schien, als es indirekt tatsächlich auf sie selbst gemünzt war:
»›Stimmt, ich habe gerade eine Glückssträhne. Ein guter Schriftsteller ist so selten, vor allem heutzutage. Die Großen haben alle ihren Hut genommen und sind nie zurückgekehrt! ›Da haben Sie meine Bücher, viel Spaß damit.‹ Céline … Aragon … Giono … Beckett … Henry Miller … Marcel nicht zu vergessen … […] Und wenn ich denke, dass du Sätze gestrichen hast, die man nicht mal mehr entziffern kann, so wie du sie vollgekleckert hast! Wenn man es wie durch ein Wunder schafft, zu lesen, was du zusammengeschmiert hast, glaubt man es kaum. Juwelen
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