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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bayard
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unseres Buches, nicht gelesen hat, sondern weil Dochin, der eigentliche Autor, ihn nicht kennt. Denn Siniacs Roman konstruiert die bemerkenswerte Situation, dass Gastinel über ein Buch spricht, das er gelesen, aber nicht geschrieben hat, während Dochin über ein Buch spricht, das er geschrieben, aber nicht gelesen hat.
    Um die Situation zu verstehen, in der sich die beiden Figuren in dieser Ausgangsszene befinden, muss man wissen, dass Dochin nicht nur einmal – bei der Erpressung durch Gastinel, der sich die Urheberrechte sichern wollte – in die Falle gegangen ist, sondern gleich zweimal, was man erst auf den letzten Seiten des Romans durch eine Rückblende erfährt. Und wenn der erste Betrug die eigenartige Haltung Dochins erklärt, so erlaubt es der zweite, im Nachhinein die Gastinels zu verstehen.
    Als er an dem Manuskript von
La Java brune
arbeitete, wurde Dochin, der zu dieser Zeit obdachlos war, von Céline Ferdinaud, der Inhaberin eines zwielichtigen Hotels, aufgenommen. Diese ist, nachdem sie die ersten Zeilen des Textes gelesen hat, so begeistert, dass sie Dochin drängt, es zu Ende zu schreiben und veröffentlichen zu lassen. Sie bietet ihm sogar konkrete Hilfe an und tippt die fehlerhaften Seiten, die Dochin ihr Tag für Tag übergibt, noch einmal auf ihrer Schreibmaschine ab.
    Das Problem dabei ist nur, dass sie diese Sekretariatsarbeit dazu nutzt, einen völlig anderen Roman zu schreiben, mit dem sie Dochins Buch nach und nach ersetzt, von dem sie lediglich den Titel, die Epoche, in der sich die Geschichte abspielt, und die Vornamen der beiden kindlichen Hauptpersonen übernimmt. Und so tauscht sie Tag für Tag Dochins schlecht geschriebene und nicht publizierbare Seiten gegen einen viel besseren Text aus, dessen Autorin sie selbst ist.
    Was ist der Zweck dieses Doppelspiels? »Céline Ferdinaud« ist in Wirklichkeit der Deckname einer bekannten Kollaborateurin aus der Okkupationszeit, Céline Feuhant, die beschlossen hatte, in Romanform ihre Memoiren zu veröffentlichen und darin ein paar Persönlichkeiten aus der damaligen Zeit, die seelenruhig ein neues Leben angefangen haben, in erpresserischer Absicht zu denunzieren. Nun hat sie sich jedoch nach der Befreiung im Austausch gegen das Versprechen der Straffreiheit verpflichtet, nicht mehr öffentlich in Erscheinung zu treten. Da sie mit einer Publikation das Risiko eingeht, erkannt zu werden, kam ihr, als sie das miserable Manuskript ihres Gastes las (der hier also nichtmehr bloß als Namensgeber, sondern auch als »Buchgeber« fungiert), die Idee, das ihre unter seinem Namen, aber sozusagen hinter dem Rücken des Autors zu veröffentlichen.
    Somit kursieren in Siniacs Roman unter demselben Titel ständig zwei Texte, die im Lauf des Romans gegeneinander ausgetauscht werden, und Dochin kann genauso wenig wie der Leser verstehen, dass sein eigener Text – den er zu Recht als grauenhaft einschätzt – bei der gesamten Presse Begeisterung hervorruft, die wiederum in Wirklichkeit nur das andere Manuskript kennt, nämlich das von Céline. Darum also hat Gastinel, der über die ganze Intrige informiert, ja sogar deren Komplize ist, keine Lust, allzu sehr ins Detail zu gehen, wenn er in Anwesenheit Dochins über den Inhalt spricht, aus Angst, dieser könnte merken, dass er sein eigenes Buch gar nicht gelesen hat.
    ∗
    So kommt es also, dass Dochin sich zu einem Buch äußern muss, das er nicht kennt, obwohl er überzeugt ist, der Autor zu sein. Im Gegensatz zu Rollo Martins, der wusste, dass er und die Zuhörer seines Vortrags nicht über denselben Autor sprechen, hat Dochin keine Ahnung, dass alle aneinander vorbeireden, da Gastinel die nötigen Vorkehrungen getroffen hat (indem er unter anderem verhinderte, dass Dochin in den Besitz eines Exemplars seines Buches kommt), um ihn an der Entdeckung zu hindern, dass
La Java brune
gar nicht
La Java brune
ist.
    Für Gastinel – der das Buch gelesen hat, seinen Doppelgänger aber unbedingt davon abhalten muss, allzu deutlich zu werden, weil dieser sonst durch die Reaktion des Moderatorsden Austausch der Manuskripte bemerken könnte – ist es also wichtig, dass alles während der Sendung Gesagte so vieldeutig wie möglich bleibt, was zum Beispiel dadurch erreicht werden kann, dass man von etwas anderem als vom Text spricht, das heißt von den Autoren oder vom nächsten Buch.
    Gastinel greift noch zu einem zweiten Mittel. Er achtet darauf, dass sich das Gespräch nur auf die wenigen gemeinsamen

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