Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
NÖTIG, ICH HAB OFT GENUG MIT IHM IN DIESEN ÖDEN PRÜFERKONFERENZEN GESESSEN, ICH KANN MIR SCHON DENKEN, WIE ES IST. DIE VORSTELLUNG, ER KÖNNTE EIN ERNSTHAFTER KANDIDAT FÜR DEN UNESCO-LEHRSTUHL SEIN, IST GERADEZU LACHHAFT .«[ 4 ]
Zeilen, die die Atmosphäre des Wohlwollens, von der die Beziehungen innerhalb der universitären Gemeinschaft geprägt sind, sehr gut wiedergeben, insbesondere, was die Einschätzung der Arbeiten unserer Kollegen betrifft, vor allem wenn wir sie, was der häufigste Fall ist, nicht gelesen haben. Ganz offensichtlich spricht David Lodge von einem Milieu, in dem er sich auskennt.
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Wie Dempsey und zahlreiche andere Universitätsangehörige habe auch ich genügend Zeit auf Versammlungen mit Kollegen verbracht, um eine – positive oder negative – Vorstellung davon zu haben, was ihre Bücher taugen, auch ohne dass ich sie lesen müsste. Im Gegensatz zu dem berühmten Proust’schen Postulat der Trennung von Autor und Werk – oder eher im Gegensatz zu einer bestimmten Lesart dieses Postulats – ist ein Buch kein Meteorit und kein Produkt eines verborgenen Ichs. Es ist oft nichts anderes als die Verlängerung der Person, die wir kennen (unter der Bedingung natürlich, dass wir uns die Mühe gemacht haben, sie kennenzulernen), und es ist absolut möglich, sich wie Dempsey einzig durch den Umgang mit dem Autor eine Meinung zu bilden.
Was Dempsey – und durch ihn wahrscheinlich David Lodge – hier sagt, ist in Kreisen, die mit Büchern zu tun haben, bestens bekannt. Man muss ein Buch nicht gelesen haben, um eine genaue Vorstellung von ihm zu haben und nicht nur in allgemeiner, sondern auch sehr persönlicher Weise über es reden zu können. Denn es gibt kein isoliertes Buch. Jedes Buch ist ein Teil dieses großen Ganzen, das ich
kollektive Bibliothek
genannt habe, und diese muss man nicht vollständig kennen, um ein bestimmtes Element davon richtig einzuschätzen (Dempsey weiß genau, mit was für einer
Art
Buch er es zu tun hat). Es geht darum, seinen Platz in dieser Bibliothek positiv oder negativ zu bestimmen, so wie ein Wort nur Sinn bekommt durch die Beziehung zu anderen Wörtern derselben Sprache und zu den anderen Wörtern des Satzes, in dem es vorkommt.
Nie geht es um
dieses eine Buch,
sondern immer um eine Gesamtheitvon Büchern, die zu einer bestimmten Kultur gehören, und da kommt es auf ein einzelnes nicht an. Es gibt also überhaupt keinen Grund, nicht die Wahrheit zu sagen und zu verheimlichen, dass wir ein bestimmtes Element der kollektiven Bibliothek nicht zur Kenntnis genommen haben, denn wir können trotzdem einen Überblick haben und einer ihrer Leser bleiben. Das Ganze – zu dem auch die Person des Autors gehört – kommt in jedem einzelnen Buch zum Tragen, in dem es sich flüchtig widerspiegelt. Dempseys Meinung über das Buch seines Kollegen ist als subjektiver Gesichtspunkt also absolut zulässig, und ich möchte wetten, sie würde sich kaum ändern, wenn er sich die Mühe nähme, es zu lesen.
Davon abgesehen, dass auch dieses Buch wie alle anderen Teil eines Ganzen ist, was Dempsey bereits eine gewisse Anzahl an Informationen liefert, erhält er auch durch das Buch selbst genügend Hinweise (durch den Titel, seine Bekanntschaft mit dem Autor, vom Hörensagen), um einzuschätzen, ob es ihm etwas zu sagen hat oder nicht. Es sind die Affinitäten zu seinem eigenen inneren Buch, die ihm Anregung genug sind, ein Urteil zu äußern, Affinitäten, die nur indirekt mit Swallows Buch zu tun haben und wahrscheinlich weder stärker noch schwächer würden, wenn er es zur Kenntnis nähme.
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Das Eingeständnis, ein bestimmtes Buch nicht gelesen zu haben, ohne sich deswegen den Mund verbieten zu lassen, sollte also die meistverbreitete Haltung sein. Wenn sie so selten ist, dann, weil die Anerkennung des Nichtlesens trotz der aktiven Dimension, die es, wie wir gesehen haben,enthält, in unseren Breitengraden mit einem Schuldgefühl einhergeht, gegen das kein Kraut gewachsen ist.
Es ist bezeichnend, dass Dempsey seine Meinung über Swallows Buch nur deswegen so frei heraus preisgibt, weil er einen Rechner vor sich hat und keine menschliche Person. Seine Haltung ändert sich ja auch prompt, als er den Eindruck bekommt, seine Gesprächspartnerin verfüge über eine Art Persönlichkeit, das heißt, sobald sie das von sich gibt, wozu eine einfache Maschine normalerweise unfähig ist, nämlich eine Meinung:
»[ DIE VORSTELLUNG, ER KÖNNTE EIN ERNSTHAFTER KANDIDAT FÜR DEN
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