Wie Samt auf meiner Haut
Jason, der am Kopf der langen,
blankpoliert schimmernden Tafel saß. Ihr Großvater hatte früher gefrühstückt
und sich bereits zur Lektüre, seinem bevorzugten Zeitvertreib, ins
Arbeitszimmer zurückgezogen. »Glaubst du, daß Mary daran teilnehmen wird?«
Jason sah
vom Morning Chronicle auf. »Hoffentlich nicht. Balfour wird seine
schützende Hand schwerlich über sie halten können, wenn Avery von ihr
verlangt, sie solle mit ihm nach London zurückkehren.«
»Arme
Mary.«
»Ja, als
Frau meines mordgierigen Bruders kann man sie arm nennen. Aber vielleicht hat
sie in Balfour einen Retter gefunden. Ich hoffe es jedenfalls.«
»Was werden
sie tun?«
»Schwer zu
sagen. Wenn es ihr mit der Lösung ihrer Ehe ernst ist, kann sie versuchen,
irgendwie eine Annullierung zu erwirken. Sollte sie dank eines Wunders Erfolg
haben, wird sie aber eine ruinierte Frau sein. Es erscheint mir unwahrscheinlich,
daß Balfour ihr die Ehe anbieten wird. Wenn ja, wird ihn die Gesellschaft ebenso
schneiden. Aber angesichts der Macht, die Avery zu Gebote steht, ist es ohnehin
unwahrscheinlich, daß sie eine Annullierung durchsetzen könnte ...«
»Es besteht
also keine Hoffnung für die beiden?«
Um seinen
Mund legte sich die Andeutung eines Schmunzelns. »Sollte ich mein Ziel
erreichen, besteht jede Hoffnung für sie. Ihr Schicksal ist, wenn auch
unbeabsichtigt, mit meinem verknüpft. Wird Avery des Mordes an meinem Vater überführt,
verliert er alles – vielleicht sogar sein Leben. Unter diesen Umständen ist
ihr eine Annullierung der Ehe sicher, wenn sie nicht ohnehin Witwe wird.«
Und wenn
du dein Ziel nicht erreichst? Velvet
brauchte die Frage nicht auszusprechen.
»Wenn ich
mein Ziel nicht erreiche«, sagte er, als hätte sie es ausgesprochen, »werde ich
sehr wahrscheinlich den Tod finden. Und Mary müßte außer Landes fliehen, um
Averys Rache zu entgehen.«
Daraufhin
schwieg Velvet. Bei dem Gedanken an Jasons Tod legte sich eiserne Beklemmung um
ihre Brust. Sie räusperte sich mühsam. »Wann wirst du mit der Countess sprechen?«
»Das weiß
ich nicht. Ich muß absolut sicher sein, daß ich sie zwingen kann, die Wahrheit
zu sagen. Wenn sie statt dessen zu Avery geht und ihm eröffnet, daß ich noch
lebe, wird er alles in seiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, daß ich
nicht lange am Leben bleibe.«
Velvet
sparte sich eine Bemerkung, doch ihr Herz war schwer. Jason konnte nicht zu
Celia gehen, ehe er ihrer Reaktion nicht sicher war. Aber Velvet konnte es.
Erst am Tag zuvor hatte sie der Countess ein Schreiben geschickt und um eine
Verschiebung des Treffens gebeten. Als Antwort war eine Einladung für diesen
Nachmittag gekommen.
Die blauen
Flecken, die sie bei der unseligen Begegnung im Gasthof abbekommen hatte, waren
fast verschwunden. Die leichte gelbliche Verfärbung, die noch geblieben war,
verdeckte sie mit einem Hauch Reispuder.
Um drei Uhr
würde sie die Countess in deren Haus am Hanover Square besuchen. Velvet wollte
die Gelegenheit nutzen und versuchen, herauszubekommen, wie es zwischen Avery
und der Countess stand. Das Thema würde sich gera dezu anbieten, da der Herzog
sich erst kürzlich vermählt hatte und sein reicher Schwiegervater gestorben
war.
»Vielleicht
sollte ich mit ihr sprechen«, sagte Velvet versuchsweise. »Da wir uns ein wenig
angefreundet haben, wäre es möglich, daß ich es herausfinde.«
»Nein«,
fuhr er sie an. »Ich möchte dich nicht in der Nähe dieser Person wissen. Für
mich steht fest, daß sie skrupellos und ohne mit der Wimper zu zucken einen
Mord begehen würde. Sie ist zu allem imstande.«
Ein Schauer
des Unbehagens überlief sie. Kein Zweifel, die Frau war gefährlich.
»Halte dich
von ihr fern«, wiederholte Jason. »Zu gegebener Zeit werde ich mir Celia
selbst vornehmen.«
Velvet
spielte mit der Serviette auf ihrem Schoß. Jason und Celia. Einst hatte er sie
geliebt. »Vielleicht freust du dich auf die Begegnung. Vielleicht wirst du
wieder Gefallen an ihr finden.«
Sein Kopf
ruckte in ihre Richtung. Die Zeitung raschelte in seinen Händen. »Ich verachte
diese Frau. Alle Schönheit ist nichtig, wenn sie so tief im Sumpf des Bösen
wurzelt. Bei dem Gedanken an Celia Rollins verspüre ich nur das übermächtige
Verlangen, ihr die Hände um den schönen weißen Hals zu legen.«
Jason
vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Seine Augen waren hinter den
Brillengläsern verborgen, die auf seiner Nase klemmten. Als sie das finstere
Stirnrunzeln sah, das noch
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