Wie Samt auf meiner Haut
Zelle
durchdrang sein weißes Hemd und haftete auf seiner Haut. Der bleiche
Sonnenstrahl, der in die Nachbarzelle fiel, streifte seinen verschmutzten
Strohsack auf dem kalten Steinboden kaum.
Ein
kratzendes Trippelgeräusch war zu hören, als eine Ratte mit klauenbewehrten
Pfoten durch die Zelle huschte. Die Luft war erfüllt von einem ekelerregenden
Geruchsgemisch aus verschwitzten, ungewaschenen Leibern und verdreckten Lumpen,
aus Fäkalien und Erbrochenem. Man hatte ihn in die tiefsten Verliese des
Kerkers geschafft, obwohl Lucien das Kostgeld hinterlegt und verlangt hatte,
man solle Jason im Trakt für Vorzugshäftlinge unterbringen und nicht beim Pöbel.
Doch in
Newgate ließen sich die Bestimmungen mit Geld nur soweit umgehen, als es den
Aufsehern beliebte. Für das Geld, das Lucien bezahlt hatte, sollte Jason in ein
paar Stunden in eine größere, sauberere Zelle verlegt werden. Diese Stunden
aber konnten zu Tagen werden, Tage zu Wochen. Und bis dahin ...
Bis dahin
hieß es hier in der Dunkelheit auszuharren, den üblen Gestank einzuatmen und
Feuchtigkeit und Moder zu ertragen. Und zu versuchen, nicht an das letzte Mal
zu denken, als er in demselben stinkenden Gefängnis gesessen hatte und fast
zugrunde gegangen wäre.
Es gab noch
andere Erinnerungen, denen er zu entrinnen versuchte, anfangs zumindest. Er
dachte an Velvet, die Frau, die mit so viel Leidenschaft sein Leben, sein Bett
und schließlich sein
Herz in Beschlag genommen hatte. Und er dachte an ihr Lächeln, ihr Lachen,
ihren Mut im Angesicht der Gefahr, ihre unbeirrbare Anhänglichkeit und Treue.
Andere Gedanken wiederum versuchte er zu verdrängen – die Erinnerung an seine
heißen, begierigen Küsse, das Gefühl, wenn er ihre Brüste liebkost hatte, die
Wonne, die es ihm bereitet hatte, in sie einzudringen und sich in ihr zu
spüren.
Er wollte
nicht an sie denken, damit nicht jede Minute und Sekunde seiner Einsamkeit noch
schmerzlicher wurde.
Doch das
Dunkel kam über ihn, drängte sich in sein Bewußtsein und versetzte ihn zurück
in die leidvolle Vergangenheit, in die Zeit seiner ersten Haft und in die
grausigen Jahre, die darauf folgten. Das Schlimmste aber war die Erinnerung an
jenen Schreckenstag im Mai, als er so tief gesunken war, daß er aufgehört
hatte, Mensch zu sein.
Um die
qualvollen Erinnerungen im Zaum zu halten, gab er seiner Sehnsucht nach Velvet
nach und konzentrierte seine Gedanken auf die mit ihr verbrachten Tage, auf ihr
gemeinsames Lachen, die Stunden der Leidenschaft, vor allem aber auf die
Kostbarkeiten, die sie ihm geschenkt hatte: ihre Unschuld, ihre Freundschaft,
ihre unwandelbare Treue und ihren Beistand.
Eine
Zeitlang schaffte er es, die Dunkelheit abzuwehren, die Erinnerung an Blut und
Tod und Angstgebrüll. Dann aber brachen die ekelhaften Gerüche, der Schmutz und
die Schwärze der Zelle seinen Willen, und die Erinnerungen an Velvet entglitten
ihm.
Die
Dunkelheit zog ihn an sich, begrub ihn unter der Vergangenheit, ließ ihn mit
seinen Dämonen allein. Häßlichkeit und Verzweiflung rissen ihn mit sich,
hielten ihn wie mit Fangarmen fest, und diesmal gelang es ihm nicht, sich zu befreien.
Sie mußte
ihn sehen. Nicht erst am Morgen, wenn Lucien sie zu ihm bringen wollte. Nicht
erst morgen. Nein, heute noch. Jetzt. Egal, was die anderen sagten.
Velvet zog
sich in aller Eile an, den schlichten braunen Rock und die Baumwollbluse, die
sie auch im Peregrine's Roost getragen hatte, dazu feste Schuhe und einen sehr
praktischen Kapuzenmantel. Die Kutsche wartete bereits vor der Tür. Ohne Sneads
besorgter Miene Beachtung zu schenken, verließ Velvet das Haus, ging die
Eingangsstufen hinunter und stieg ins dunkle Wageninnere. Mr. Ludington, der
ebenso wie Mr. Barnstable bei dem Zusammenstoß mit Averys Leuten arge Blessuren
davongetragen hatte, saß ihr gegenüber.
Beide
hatten erstaunliche Standfestigkeit an den Tag gelegt und Jason unterstützt,
auch nachdem sie seine wahre Identität erfahren hatten. In ihren Augen konnte
ein Mann, der so tapfer darum kämpfte, seine Unschuld zu beweisen – und die ihm
anvertrauten Menschen zu schützen –, keinen Mord begangen haben.
Mr.
Ludington rutschte auf dem weichen, roten Plüschsitz unbehaglich hin und her.
»Sind Sie Ihrer Sache sicher, Mylady? Es wäre besser, Sie würden sich
gedulden, bis Seine Lordschaft Sie am Morgen abholt.«
»Mein Mann
braucht mich. Ich spüre, daß mit ihm etwas nicht stimmt. Ich kann nicht bis
morgen warten.«
Ludington
gab keine
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