Wie Samt auf meiner Haut
tragen«, sagte sie, dem Tag mit
einigem Bangen entgegensehend.
Aber sofort
kehrten ihre Gedanken zu dem Thema zurück, um das sie unablässig kreisten. In
den langen schlaflosen Nachtstunden hatten sich ihre Überlegungen einzig und allein
um Jason Sinclair gedreht.
War er
wirklich ein Mörder? Oder lag irgendein Mißverständnis vor, das ihn zum Täter
stempelte?
Während sie
sich vor dem kostbaren Sheraton-Toilettentischchen von Tabby kämmen ließ, die
ihr Haar auf dem Kopf zu einer hohen Frisur aufsteckte, aus der ein paar
vorwitzige Löckchen
auf ihre Schultern fielen, grübelte sie, ob Jason tatsächlich imstande war,
einen Mord zu begehen.
Nein, sie
bezweifelte eigentlich nicht, daß er unter gewissen Umständen zum Mörder
werden konnte. Verfolgte er ein Ziel, tat
er es mit großer Entschlossenheit und Härte und duldete nicht, daß sich ihm
jemand in den Weg stellte.
Jason
Sinclair war ein gefährlicher und schwer durchschaubarer Mensch. Jede Faser
seines Körpers verriet die Härten, die ihn zu
dem Menschen gemacht hatten, der er war. Sie versuchte sich
einzureden, daß er kaltblütig seinen Vater ermordet haben konnte, doch ihr
Inneres weigerte sich, es zu glauben. Vor
ihrem geistigen Auge ließ sie die gemeinsam im Jagdhaus verbrachten Tage
abermals Revue passieren. Sie hatte ihm von Anfang an Widerstand geleistet, und
doch hatte er ihr nie etwas zuleide getan, auch nicht, als sie ihm Grund dazu
geliefert hatte.
Sie dachte
an ihre Begegnung im Stall. Wie sanft er mit dem Hündchen umgegangen war. Und
als er von seinem Vater gesprochen hatte,
spiegelten seine Worte und seine Miene Ausdruck seiner Liebe und seiner
Achtung, die er seinem Erzeuger entgegenbrachte. Auch der Butler hatte gesagt,
daß Jason seinen Vater geliebt hätte und nie imstande gewesen wäre, ihm etwas
anzutun.
Er ist unschuldig,
dachte Velvet mit wachsender Überzeugung, während Tabby ihre Krinoline
befestigte und ihr dann in das Tageskleid mit den safrangelben Streifen half.
Mit jeder Minute wurde sie ihrer Sache sicherer.
Eine kleine
Stimme warnte sie, daß es Wunschdenken war, daß man den Mann zum Tod durch den
Strang verurteilt hatte, doch
das änderte nichts an ihrem Gefühl. Jason Sinclair war nicht der Mann, der an
einem Menschen, den er liebte, ein solches Verbrechen begehen konnte.
Vielleicht
war das der Grund, weshalb er aus seiner Dekkung hervorgekommen war.
Vielleicht hatte er all die Jahre seine Unschuld zu beweisen versucht. Sie
wußte zwar nicht, warum er so lange gewartet hatte, aber wenn er beabsichtigte, sich zu
rehabilitieren, mußte er jemanden gefunden haben, der ihm half, und dem er
vertrauen konnte.
Einen
langjährigen Freund etwa, wie es der Marquis of Litchfield war.
Ihr Herz
schlug schneller, pumpte Blut in ihren brummenden Schädel und steigerte den
Schmerz. Litchfield hatte an Jasons Unschuld geglaubt, hatte beim Prozeß für
ihn ausgesagt. Im Jagdhaus war ein großer und dunkler Mann kurz zu Besuch
aufgetaucht. Sie hatte sein Gesicht nicht ganz sehen können, aber wenn sie es
recht überlegte, so war sie jetzt sicher, daß die schmalen, harten Züge Lucien
Montaine gehörten.
Litchfield
war ein Mann von Format, ein Mann, dem unter seinesgleichen Respekt und
Bewunderung entgegengebracht wurden. Wenn der Marquis gewillt ist, ihm zu
helfen, muß Jason unschuldig sein, folgerte Velvet.
Und Litchfield
war es auch, der wußte, wo er sich aufhielt. «Tabitha! Tabby!« rief sie ihre
Zofe zurück. »Ich habe meine Meinung geändert. Komm und hilf mir beim
Umkleiden.« Sie lief an ihren Kleiderschrank, öffnete die verspiegelten Türen
und nahm ein Reisekleid aus rostbrauner Ripsseide samt passendem Umhang heraus.
»Sieh einer
an«, äußerte Tabitha verdutzt. »Wohin wollen Sie denn? Ich dachte, Sie hätten
die Absicht, den Morgen mit dem Herzog zu verbringen.«
»Ich sagte
schon, ich habe mich anders entschieden. Ich muß etwas erledigen und brauche
etwas Schlichteres, Nüchterneres. Hilf mir beim Umkleiden, und mach dich dann
selbst zurecht. Du kannst mich beim Herzog entschuldigen, während ich
hinuntergehe und anspannen lasse.«
Tabby, die
eine Debatte für zwecklos hielt, half Velvet beim Umziehen und machte sich dann
selbst reisefertig. Im Hand umdrehen saßen sie in der Haversham-Kutsche, Tabby
in der Rolle einer Anstandsdame auf dem Sitz Velvet gegenüber. Auf dem
Kutschbock ließ John Wilton die Peitsche knallen, und das Gefährt setzte sich
in Bewegung und rumpelte über die Landstraße
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