Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
früh am Morgen war sie mehr oder weniger allein, abgesehen von den Reihern und Silberreihern, die im seichten Wasser standen, und der Unmenge von Seemöwen und Seeschwalben, die sich unweit der Felsen eingefunden hatten.
    Sie lief durch das menschenleere Naturschutzgebiet, dann tauchte die Strandhaus-Kolonie vor ihr auf – Cottages, die sich beinahe aufs Haar glichen, fein säuberlich aufgereiht wie Monopoly-Häuser. Dahinter begann das Vergnügungsviertel von Black Hall, wo Regis an einem Bierausschank vorbeilief, an dessen Eingang ein Mann im Sand lag und seinen Rausch ausschlief.
    Ihre Füße flogen dahin, ihr Herz raste. Ein einziger Blick auf die Handschrift ihres Vaters hatte das bewirkt. Ihre Schwestern waren jünger als sie, hatten das Ganze noch nicht richtig mitbekommen. Im Gegensatz zu ihr. Was wussten die zwei schon von ihm, woran erinnerten sie sich? Regis war sich nicht sicher, und sie sprachen so gut wie nie darüber. In den sechs Jahren hatte die Familie ihn genau sieben Mal besucht. Dreimal im ersten Jahr, zweimal im zweiten Jahr und dann nur noch einmal im Jahr, bis zum vorletzten Sommer. Danach war Schluss gewesen. Während der langen Zeit, die zwischen den Besuchen lag, passierten seltsame Dinge. Regis vergaß, wie die Stimme ihres Vaters klang oder wie seine Augen aussahen. Sie vergaß sein Lachen, das leise und stillvergnügt begann, bevor es sich zu schallendem Gelächter auswuchs. Und wie stark seine Hände waren. Oder was für ein Bild ihre Eltern boten, wenn sie zusammen waren.
    Ihre Mutter hatte immer neue Ausflüchte gefunden, um zu rechtfertigen, warum die Besuche eingestellt wurden. Der Flug war zu teuer, Studium und schulische Aktivitäten hatten Vorrang und nahmen viel Zeit in Anspruch, und Regis’ Lieblingsvorwand: den Vater im Gefängnis zu sehen sei eine traumatische Erfahrung für die Mädchen. Regis versuchte ihr begreiflich zu machen, dass es für sie viel traumatischer war, ihn
nicht
sehen zu können. Doch Honor schien ihre eigenen, unausgesprochenen Gründe zu haben und hatte sich taub gestellt.
    Regis war aufgewühlt, als sie am Strand entlanglief. Sie hatte der Tennismannschaft von Star of the Sea angehört, aber nur, weil sie sich von ihrer Tante dazu genötigt sah. Teamsportarten waren nicht ihr Ding. Wie ihr Vater, war auch sie eine Einzelkämpferin – Laufen, Schwimmen, Radfahren, Klettern, vor allem, wenn damit ein beträchtliches Risiko und ein kräftiger Adrenalinstoß verbunden waren. Auch jetzt – als sie sich den großen Häusern auf dem Tomahawk Point näherte, zog sie es vor, auf den schroffen, zerklüfteten Felsen am Ufer entlangzulaufen, statt die Abkürzung über den Küstenpfad zu nehmen, der weiter oben hinter den Grundstücken verlief. Ein einziger Ausrutscher und sie lief Gefahr, sich den Knöchel zu brechen oder abzustürzen und im Meer zu landen. Doch daran verschwendete sie keinen Gedanken – sie besaß genug Selbstvertrauen, um unbeschadet ans Ziel zu gelangen.
    Während sie lief, entdeckte sie plötzlich Treibholz, das auf die Felsen gespült worden war, und mit einem Mal fror sie. Der Anblick erinnerte sie an Irland: die mutwillig zerstörte Skulptur ihres Vaters, errichtet aus Treibholz, die abgerissenen, auf dem Boden verteilten Äste. Obwohl die Erinnerung vage und verschwommen war, schauderte Regis.
    Sie beschloss, auf die Felsen und den unberührten Strand zu verzichten, um auf der letzten Etappe durch den Wald zu laufen. Dieser Weg nach Hubbard’s Point führte über schmale Pfade und Bäche entlang in den Sumpf und über eine Behelfsbrücke – eine zersplitterte Planke, die jemand quer über den Zufluss zum Meer gelegt hatte, in dem zahlreiche Krebse und schlüpfrige, im Morast lebende Kreaturen heimisch waren. Noch vor Irland hatte sie von ihrem Vater gelernt, den Weg zu wählen, den nur wenige Menschen einschlugen. Diese Neigung war angeboren, lag ihr im Blut, und selbst wenn sie versuchte, sich für den sichersten Weg zu entscheiden, ging sie instinktiv den riskantesten.
    Nachdem sie die letzte Viertelmeile, die über verschlafene Strandwege bis zum Haus der Drakes führte, im Dauerlauf zurückgelegt hatte, war sie verschwitzt und atemlos, als sie sich Peter und seiner Mutter von Angesicht zu Angesicht gegenübersah. Peters Miene hellte sich bei ihrem Anblick auf. Seine Mutter musterte sie missbilligend.
    »Hallo!« Regis ging schnurstracks zu Peter und küsste ihn. Er machte Anstalten, sie zu umarmen, doch sie wich zurück,

Weitere Kostenlose Bücher