Wie Sand in meinen Händen
gehandelt und seine Tochter verteidigt. In einigen Zeitungsartikeln wurde Greg White als Parasit beschrieben, der sich seit geraumer Zeit dem »fahrenden Volk« in Connemara angeschlossen hatte, Zigeunern, die in Bauerngehöfte einbrachen und nicht davor zurückschreckten, die Besitzer zusammenzuschlagen. White hatte angeblich mit den Reichtümern geprahlt, die auf ihn warteten.
In anderen Zeitungen hieß es dagegen, ihr Vater hätte mit unangemessener Gewalt reagiert. Die Polizei habe sich schon einmal genötigt gesehen, gegen ihn einzuschreiten. White habe seine Skulptur beschädigt und sei von Sullivan in einer Bar zur Rede gestellt worden. Danach sei ein Kampf entbrannt, und man habe ihrem Vater Einhalt gebieten müssen. Am schlimmsten war jedoch, dass die Umstehenden seine Drohung gehört hatten, er würde White umbringen, sollte dieser die Skulptur jemals wieder anrühren. In einigen Berichten kam man zu der Ansicht, von Abwehr eines Angriffs auf seine Tochter Regis könne keine Rede sein – er habe die Grenze zwischen Totschlag und Mord überschritten; seine Wut sei in Wirklichkeit durch die mutwillige Beschädigung seiner Skulptur ausgelöst worden und dass sechs Jahre Haft für diese niederen Beweggründe nicht ausreichten.
Agnes mochte gar nicht daran denken und weigerte sich, auch nur ein Wort davon zu glauben. Das Schlimmste war, dass das Gefängnis so weit weg war, und im Laufe der Zeit hatten sie die Besuche eingestellt. Er schrieb Briefe nach Hause, die ihre Schwestern und sie beantworteten. Aber nicht ihre Mutter.
Agnes saß auf ihrem Bett und schrieb in ihr Notizbuch. Es war Dienstag, der Tag des Schweigens. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, den sie mit ihren Schwestern teilte, sah Regis’ Brautmagazine, die Bilder auf dem Schreibtisch ihres Vaters, seine Fotografien an der Wand. An einer Aufnahme von Regis und Peter blieb ihr Blick hängen, und sie schauderte.
Regis beging einen Fehler. Sie sehnte sich nach Liebe und Romantik, einem Märchentraum. Agnes konnte kaum mit ansehen, wie sich ihre Schwester abmühte, etwas zu erfinden, was sie niemals verwirklichen konnte. Sie wusste – war sich sicher, dass Regis versuchte, sich eine heile Welt vorzugaukeln. Solange Peter und sie sich liebten, konnte sie so tun, als wäre ihre Familie noch intakt.
Peter war nicht der Richtige für ihre Schwester. Er war nett, zugegeben, aber ein bisschen gewöhnlich. Dagegen war Regis nicht mit Worten zu beschreiben, sie war toll, fürchtete weder Tod noch Teufel. Sie kletterte auf die höchsten Bäume, als wollte sie den Mond aus nächster Nähe in Augenschein nehmen. Einmal war sie quer durch den Long Island Sound geschwommen, während Agnes und Cecilia sie im Ruderboot begleiteten, um sicherzugehen, dass sie heil in Orion Point ankam. Sie besuchte das Boston College, wo sie zu den Besten ihres Jahrgangs gehörte, hatte nebenbei zwei Jobs und war die beste Schwester der Welt.
Regis hatte sich um Agnes gekümmert, als die Familie zerbrach. Cecilia auch, aber sie war noch zu jung gewesen, um das alles begreifen zu können. Regis hatte nach Irland einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen – hatte das Trauma ein für alle Mal abgehakt. Agnes bewunderte ihre Fähigkeit, zu verdrängen und zu vergessen. Diese Eigenschaft hatten die Schwestern gemein. Regis und Agnes hatten immer wie Pech und Schwefel zusammengehalten, waren miteinander durch dick und dünn gegangen.
Eine bessere Schwester gab es nicht. Als Regis aufs College gegangen war und auf dem Campus wohnte, hatte Agnes sie unendlich vermisst; dass sie bald heiraten würde, konnte sie sich nicht einmal vorstellen.
Agnes konnte nur eines tun: beten. Damit hatte sie die schlimmsten Situationen im Leben überstanden. Sie stieg aus dem Bett und ging zum Fenster. Sie kniete nieder und ließ den Blick über das weitläufige Anwesen der Akademie mit den langen, malerischen Steinmauern schweifen. Sie bargen viele Geheimnisse und Rätsel. In gewisser Weise waren sie verantwortlich für die Familientragödie, versprachen aber gleichzeitig Erlösung von dem Übel, das ihnen widerfahren war. Sie waren von ihren geliebten Vorfahren errichtet worden.
Kniend betrachtete sie das Land und die Mauern, dann begann sie, das
Memorare
zur Muttergottes zu beten. Neben ihr auf dem Fensterbrett lag Sisela. Sie war uralt für eine Katze – achtzehn, ein wenig älter als Agnes –, schneeweiß und beinahe zahnlos. Agnes fragte sich, ob sich Sisela noch
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