Wie Sand in meinen Händen
bahnten sich die Vorboten der Flut ihren Weg über das Watt und züngelten um Johns und Honors Füße.
In diesem Augenblick hörten sie Schritte: Cece kam den Hügel hinuntergerannt, fuchtelte mit den Armen und schwenkte ein weißes Blatt Papier.
»Mom, Dad!«, schrie sie. »Die Polizei steht an der Akademie. Sind die wegen Regis gekommen? Sie ist spurlos verschwunden! Weggelaufen!«
[home]
23. Kapitel
R egis hatte eine Nachricht hinterlassen, die lautete, sie müsse allein sein und nachdenken. Doch nach dem gestrigen Abend war gerade dies das Schlechteste für sie, fand Honor.
Als sie das Haus betrat, folgte ihr John in das Zimmer der Mädchen. An der Türschwelle blieb er stehen und sah sich um. Überall waren Bilder von ihm: auf dem Schreibtisch, auf den Nachttischen, an der Wand über den Betten seiner Töchter. Neben der Tür hingen Fotos, die er gemacht hatte – einige Originale, andere aus Zeitschriften ausgeschnitten. Er stand reglos da, staunte über die sichtbaren Zeichen seiner Anwesenheit im Leben seiner Töchter und wusste, dass es unabdingbar war, sie wieder zu verlassen. Die Worte »Rühr meinen Vater nicht an« hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt. Wenn er aus ihrem Leben verschwand, konnte er vielleicht verhindern, dass Regis den eingeschlagenen Weg weiterging.
Honor nahm Regis’ Kissen, hielt es im Arm, stumm und wie erstarrt. Sie stand in der Mitte des Zimmers und machte keinerlei Anstalten, Regis’ Kommoden- oder Schreibtischschubladen durchzusehen. John konnte beinahe sehen, wie sie versuchte, Regis’ Wesen zu verinnerlichen, nachzuempfinden, was in ihr vorgegangen sein mochte, und auf diese Weise vielleicht einen Hinweis auf ihren Verbleib zu erhalten …
»Wir müssen sie suchen!«, rief Cecilia hektisch. »Entweder zu Fuß oder mit dem Auto!«
»Cece hat recht«, sagte Honor. »Mir graut bei dem Gedanken, was jetzt in ihrem Kopf vorgeht.«
»Ich wünschte, Regis hätte gewusst, dass ihr wieder miteinander redet!«, brach es aus Cece heraus. »Und dass du zu Dad an den Strand gegangen bist, Mom!«
»Was soll das heißen?«
»Sie war gestern Abend völlig aufgelöst. Weil wir Dad einfach auf Hubbard’s Point zurückgelassen haben, ohne uns darum zu kümmern, wie er nach Hause kommt.«
»Ich bin den Strand entlanggegangen. Das war völlig in Ordnung, Cece.«
»Das hat Regis aber nicht so gesehen«, schluchzte Cece. »Sie war völlig
außer sich,
raufte sich buchstäblich die Haare vor lauter Verzweiflung. Sie sagte immer wieder, es sei alles
ihre
Schuld, das sei ihr jetzt klar geworden.«
»Sie hat sich über die Bemerkung von Peters Vater aufgeregt, nichts weiter«, meinte Honor beschwichtigend.
»Vielleicht war damit etwas anderes gemeint«, sagte John.
»Was denn?«
»Vielleicht ging es gar nicht um den gestrigen Abend«, erklärte John grimmig und folgte Honor und Cece in die Küche.
»Worum dann?« Honor ging zum Tisch und strich gedankenverloren ein Platzdeckchen glatt. Plötzlich fiel ihr Blick auf den blauen Umschlag, der unter der Stoffkante hervorlugte.
»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«, sagte Honor zu Cece, ohne Johns Antwort abzuwarten.
»Wir haben zusammen gefrühstückt. Oder besser gesagt, ich habe gefrühstückt, Regis saß nur da und hat keinen Bissen angerührt.«
»Hat sie das da erwähnt?«, fragte Honor, hielt den Umschlag hoch und war mit einem Mal blass geworden. Der Umschlag war leer.
Cece zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht. Was war in dem Umschlag?«
»Etwas, das ich nicht hätte herumliegen lassen sollen.« Honor schob den Umschlag in die Tasche ihrer Jeans.
»Was denn, Honor?«, hakte John nach.
»Ein Brief, den ich Bernie vor langer Zeit geschrieben habe. Sie gab ihn mir unlängst zurück … um mich an meine eigenen Worte zu erinnern.«
»Schaut mal!« Cece, die am Fenster stand, deutete nach draußen. Über die Wiese, vom Hauptgebäude des Campus kommend, sahen sie, dass ein Streifenwagen und ein dunkler Sedan in Richtung Grotte fuhren. »Die habe ich vorhin schon gesehen; ich dachte, sie wären vielleicht da, um Regis zu suchen.«
John dachte an den gestrigen Abend – an Regis’ unkontrollierten Ausbruch, wie sie blind zu seiner Verteidigung geeilt war – und hoffte, sie noch vor der Polizei zu finden, noch bevor sie mit irgendjemandem sprach.
»Wir müssen mit ihnen reden«, sagte Honor.
»Die Polizei muss sie suchen. Kommt, schnell!«, rief Cece.
John blieb stumm und überlegte krampfhaft, wo Regis
Weitere Kostenlose Bücher