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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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kannte alle Einzelheiten. Bernie eilte aus der Grotte; sie musste Honor aufsuchen, musste dringend mit ihrer Freundin reden.
    Auf dem Gipfel der Anhöhe begann sie zu laufen, mit wehendem Habit und Schleier. Als sie die Kapelle erreichte – wobei sie die ganze Zeit an Toms Worte über Menschen dachte, die an der Liebe zerbrachen –, war Honor verschwunden. Bis auf die beiden jungen Nonnen, die vor dem Altar beteten, war die Kapelle leer.
     
    Honor hatte nicht gewusst, wo sie anfangen sollte. Sie hatte eine ganze Liste von Dingen, die sie Gott vortragen wollte, doch nach einer halben Stunde war ihr Kopf leer und ihr Herz schwer. Sie hatte eine glückliche Kindheit gehabt und war zu einer unbeschwerten jungen Frau herangewachsen. Sie hatte den Mann geheiratet, den sie liebte, und drei Kinder mit ihm. Mit künstlerischem Talent gesegnet, hatten sie sich gegenseitig inspiriert, angespornt und es geschafft, die Leidenschaft auch im Alltag zu bewahren.
    Und dann der Fall. Eher ein langes, langsames Abgleiten aus dem Zustand der Gnade, wie auf einer schiefen Bahn, gefolgt von einem jähen Sturz in den Abgrund. Sie hatte gesehen, wie ihn das Leben und die Welt beflügelten, welche Risiken er in seiner Kunst und seinem Leben eingegangen war – während sie das Gefühl hatte, abgehängt worden zu sein. In der neuen, unlängst begonnenen Phase ihrer Schaffenskraft hatte sie die Freude und den Schmerz zum Ausdruck gebracht, die sie in ihrer Ehe empfunden hatte: die Liebe zu John, die Zweifel, die Angst um seine Sicherheit und um sein Leben. Sie hatte ihn nach jeder Reise willkommen geheißen, ein ums andere Mal, sich aber am Ende gefragt, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.
    Diese neue Phase war ein großes Geschenk gewesen. Sie hatte ihr eigenes künstlerisches Feuer wiederentdeckt, und ihre Bilder von Ballincastle waren die besten, die sie seit Jahren gemalt hatte. Das hatte sie nicht zuletzt Johns Labyrinth und John selbst zu verdanken. Seine Arbeit war mit einem Mal bodenständiger geworden – buchstäblich in den Sandstrand vor ihrer eigenen Haustür gegraben. Ihre eigene Arbeit setzte dagegen zum Höhenflug an – strebte in die Ferne, zurück nach Irland, in die eigenen dunklen Verliese, in die sie sich geflüchtet hatte.
    Gestern Nacht, als sie alleine in ihrem Bett lag und den Schreien der Seemöwen an ihren Nistplätzen auf der anderen Seite der Bucht lauschte, war ihr plötzlich ein Licht aufgegangen. Sie hatte John an allem die Schuld gegeben: an Regis’ Tollkühnheit, an ihrer traumatischen Erfahrung in Irland, an ihrer Verlobung, an Agnes’ Sturz. Doch dann dämmerte es ihr: Sie machte ihn im Grunde dafür verantwortlich, dass er sie alleine gelassen hatte. Sie zurückgelassen hatte.
    Als sie auf dem Weg zum Strand den Weingarten durchquerte, blieb sie stehen, um einen Strauß Wildblumen zu pflücken, die an der Mauer wuchsen. Sie setzte ihren Weg fort und sah Agnes und Brendan, die mit Farben und Papier unter einer großen Eiche im Gras saßen. Sie wäre gerne stehen geblieben, um ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, aber sie hatte vorher noch etwas zu erledigen.
    Oben auf der Böschung angekommen, entdeckte sie John. Er kauerte im Zentrum des Labyrinths und legte kleine Steine aus. Sisela lag auf einem Treibholzstamm und ließ ihn nicht aus den Augen. Das kleine Fellknäuel von früher liebte ihn immer noch abgöttisch. Honor stand regungslos da, ließ sich vom Wind die Haare aus dem Gesicht wehen. Dann holte sie tief Luft und ging durch den Sand zu ihrem Mann.
    John blickte überrascht auf. Aus der Entfernung hatte es ausgesehen, als wäre er tief in Gedanken versunken, eins mit sich und der Welt; aus der Nähe erkannte sie den abgrundtiefen Schmerz in seinen Augen. Sie streckte ihm die Wildblumen entgegen.
    »Für dich.«
    »Warum?«
    »Dass du mir neulich Blumen mitgebracht hast, hat mich sehr gefreut. Ich wollte … dir ebenfalls eine Freude machen.«
    »Danke.« Er stand auf und nahm den Strauß entgegen, ohne zu lächeln.
    »Tut mir leid wegen gestern Abend«, sagte sie.
    »Mir auch.«
    »Es gibt nichts, was dir leid tun müsste. Es war nicht deine Schuld … nichts von alledem. Die Mädchen lieben dich, John. Sie versuchen, dir nachzueifern, jede auf ihre eigene Weise. Agnes fotografiert. Cece macht Skulpturen aus Ton … und Regis …«
    »Ich weiß.«
    »Ralph Drake hat sich völlig danebenbenommen. Aber Regis hat ebenfalls überreagiert. Dieser Schrei: ›Rühr meinen Vater nicht

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