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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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hatte, einen riesigen Felsblock vor den Eingang der Grotte zu wälzen, um die Geheimnisse darin zu verschließen und von jedermann fernzuhalten.
    »Zeig mir einfach, was du meinst«, sagte sie nun.
    »Gut. Hier – siehst du, wie kraftvoll der Urheber die ersten Worte ›Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz‹ eingeritzt hat? Danach verlieren die Buchstaben an Tiefe. So als hätte sich der Urheber anfangs eine Menge Zeit gelassen und sich am Schluss beeilen müssen. Oder er hat den Mut verloren.«
    »Die letzten drei Worte ›wie der Tod‹ sehen aus, als wären sie in aller Eile hinzugefügt worden«, meinte Bernie.
    »Als hätte die betreffende Person, ob männlich oder weiblich, befürchtet, jeden Moment erwischt werden. War zufällig eine von den Schwestern nachts hier?«, fragte er.
    »Ich.« Bernie hob den Blick und sah ihn an. »Ich konnte nicht schlafen und habe einen Spaziergang gemacht.«
    »Ein Kontrollgang, Schwester?« Er überragte sie, stand dicht vor ihr, ohne sie zu berühren.
    »Warum sollte ich das tun?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht, um nach streunenden Nichten Ausschau zu halten? Oder nach irgendwelchen unverbesserlichen Romantikern, die mit ihren Kritzeleien die Grotte verunzieren?«
    »Ich sagte, ich machte einen Spaziergang, Tom. Das ist alles.«
    »Übrigens, was hat ein Liebesgedicht in der Bibel zu suchen?«, fragte er, als hätte er ihre Antwort nicht gehört.
    »Es ist ein Gleichnis. Über den Weg zur wahren Liebe, den Gott dem Verfasser weist. Die meisten Gelehrten stimmen darin überein, dass hier nicht die romantische Liebe, sondern die spirituelle Vereinigung auf einer höheren Ebene gemeint ist. Das war’s dann wohl mit deiner Theorie.«
    »Diese lange Inschrift anzubringen war ein hartes Stück Arbeit.« Tom betrachtete die Wand. »Die Worte sind nicht tief in das Gestein eingeritzt, aber es muss trotzdem ein mühseliges Unterfangen gewesen ein. Wer das zustande gebracht hat, scheint geradezu besessen gewesen zu sein. Und das, was ihn umtreibt, nimmt immer düstere Formen an.«
    »Stimmt.« Bernie dachte an John und das Labyrinth, an Honor in der Kirche, an Regis’ Angriff, an Agnes und die Mauer und an andere unlösbare Rätsel. So viel Liebe und so viele Probleme …
    »Du behauptest also, hier geht es um die göttliche, spirituelle Dimension der Liebe, nicht um die zwischenmenschliche.«
    Bernie nickte. An diesem Ort sollte keine Lüge über ihre Lippen kommen. Aber es war keine Lüge, nicht wirklich. Sie war fest überzeugt davon, dass auch die zwischenmenschliche Liebe eine göttliche, spirituelle Dimension hatte. Möglich, dass ihre Auffassung entgegen der katholischen Glaubenslehre war, aber für sie ging es im Hohelied Salomons immer um die Liebe zweier Menschen.
    Um das, was zwischen zwei Liebenden heilig und unantastbar war.
    Sie spürte seinen Blick, der auf ihr ruhte. Die Haare waren ihm in die Augen gefallen; sie hatte das Bedürfnis, sie zurückzustreichen, doch sie unterdrückte den Impuls. »Ich kann deine Augen nicht sehen«, sagte sie stattdessen.
    »Wozu willst du sie sehen?«
    »Damit ich sehen kann, was du denkst.«
    »Ich denke an die Tiefe der Vereinigung, die zwischen zwei Menschen auf dieser Erde möglich ist«, erwiderte er.
    »Tom …«
    »Und ich denke, wir sollten die Polizei einschalten. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine Drohung oder ein Hilferuf ist, aber es gefällt mir nicht.«
    »Lass die Polizei aus dem Spiel. Das regeln wir unter uns.«
    Er warf ihr einen langen kalten Blick zu, den sie sogar durch den Wust von Haaren wahrnehmen konnte. »Und wenn in der Zwischenzeit etwas passiert? Wenn jemand verletzt wird oder eine Gefahr für andere darstellt? Jemand, der an der Liebe zerbrochen ist?«
    »Wer sollte das sein?«
    »Dreimal darfst du raten.«
    »Tom, du klingst so verbittert.«
    »Ich weiß, ich bin hier nur der Verwalter, aber ich fühle mich für dieses Anwesen verantwortlich. Ich weiß, was ich in diesem Fall zu tun habe, Schwester, und ich werde es tun.«
    Sie antwortete nicht.
    Tom verließ die Grotte, ohne sich umzudrehen. Kopfschüttelnd, wie sie sich gut vorstellen konnte – sie spürte, wie enttäuscht er immer noch von ihr war, selbst nach so langer Zeit, weil sie seine Wünsche und Pläne für eine gemeinsame Zukunft zunichtegemacht hatte. Konnte er sich nicht vorstellen, dass sie sich das Gleiche gewünscht hatte?
    Honor war die Einzige, die in einen Großteil der Geschichte eingeweiht war – doch nicht einmal sie

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