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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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angeboren war: die Fähigkeit, hinzuschauen und die Natur in einem Bild einzufangen. Und nicht nur die Natur, sondern auch die Menschen. Sie erinnerte sich an das erste Polaroidfoto, das er von ihr gemacht hatte – das kupferrote Haar vom Schlaf zerzaust, das Flanellnachthemd bis zum Hals zugeknöpft, mit einem schiefen Lächeln und Augen, die am Weihnachtsmorgen vor Glück strahlten.
    Während ihr Blick über das Gelände schweifte, fragte sie sich, wo John wohl steckten mochte. Vor jenem verhängnisvollen Tag war er ständig unterwegs gewesen, hatte ein Leben aus dem Koffer geführt, das ihn überall dorthin verschlug, wo er sensationelle Fotos zu machen hoffte – während der Schulferien in Begleitung von Honor und den Mädchen, ansonsten allein. Für den Feinschliff eines Projektes, bei dem es um Schneeeulen, die Wälder im hohen Norden und die Bahn des Planeten Venus ging, war er dem Licht folgend in Manitoba gelandet, der östlichsten Prärieprovinz Kanadas. Die Geister der Vergangenheit hatten ihn nach Irland geführt, wo er sich auf die Suche nach seiner eigenen Version des Heiligen Grals begab – und die schlimmste Katastrophe erlebte, die es geben konnte.
    Nonnen gingen vorbei, kamen und gingen. Schwester Bernadette nickte ihnen schweigend zu, was gleichermaßen erwidert wurde. Schlichte Grußrituale und der Geist liebevoller Verbundenheit waren Teil des Klosterlebens, gingen auf die Ordensregeln des heiligen Benedikt zurück. Wenn das Leben draußen in der Welt nur so einfach wäre! Gestern Abend nach der Vesper, kurz bevor es zu regnen begann, hatte Bernie einen Abendspaziergang zur Blauen Grotte gemacht. Sie hatte Honor auf dem Weg zwischen ihrem Cottage und der Kunstakademie erspäht, die Hand zum Gruß erhoben und auf eine Gelegenheit gehofft, die Situation außer Hörweite der Mädchen mit ihr erörtern zu können, doch Honor hatte sie nicht bemerkt – war in ihre eigenen Gedanken versunken gewesen.
    Der Summer ertönte, der anzeigte, dass jemand an der Pforte war. Bernadette wandte den Kopf und lauschte. Kurz darauf steckte Schwester Ursula den Kopf durch die Tür des Kreuzgangs und sagte: »Tom Kelly ist da.«
    »Ah.«
    Schwester Ursula rührte sich nicht vom Fleck. Ihre Blicke trafen sich, doch Bernadette ließ weder eine Reaktion erkennen, noch wandte sie ihre Augen als Erste ab. Sie hatte nichts zu verbergen.
    »Er muss dringend mit Ihnen sprechen, irgendein Problem auf dem Gelände.«
    »Danke. Richten Sie ihm aus, dass ich gleich komme.«
    Schwester Ursula blieb einen Moment unschlüssig stehen, mit einer Miene, die an Neugierde grenzte, doch dann nickte sie und ging. Sie war beinahe genauso lange Nonne wie Bernadette. In Black Hall geboren und aufgewachsen, stammte sie aus einer Familie, die bekannt war und der episkopalischen Glaubensgemeinschaft angehörte. Damals lautete ihr Name Charlotte Rose Whitney. Man hatte sie wie Toms Schwester Anne ins Miss Porter’s geschickt, ein exklusives Mädchenpensionat. Ihr Bruder Henry Tobias hatte die Hotchkiss besucht und war oft mit Mädchen aus der Akademie ausgegangen. Nach dem Tod der Eltern war Charlotte zum katholischen Glauben übergewechselt und Ordensschwester geworden. Sie hatte den Namen der heiligen Ursula angenommen, Märtyrerin und Schutzpatronin der Bildungsstätten für Mädchen.
    Wie sich unser beider Leben verändert hat, dachte Bernadette. Manchmal fragte sie sich, wie viel Schwester Ursula wusste, was sie von ihrem Bruder Henry über die guten alten Zeiten an der Akademie gehört haben mochte. Sie sprachen das Thema nie an, doch bisweilen, wenn Tom in der Nähe war, hatte sie Schwester Ursula dabei ertappt, wie sie ihr einen verstohlenen Blick zuwarf – eher mitfühlend als missbilligend, zumindest redete sich Bernadette das ein.
    Der Kreuzgang war lang. Eigentlich handelte es sich dabei um einen überwölbten Gang, der im Nachhinein errichtet wurde, um das Dormitorium, den Schlafbereich der Nonnen, mit der Kapelle und dem Schultrakt zu verbinden. Vom Regen rein gewaschenes Licht fiel durch die diamantförmigen Bleiglasfenster, ergoss sich auf den Terrakottaboden. Bernadettes Absätze klapperten bei jedem Schritt.
    Als sie das Verwaltungsgebäude erreichte, sah sie draußen Johns grünen Pick-up. Auf der Ladefläche befand sich eine Fuhre Steinblöcke, glitzernd vom Regen. Sie betrat ihr Büro und sah ihn mit dem Rücken zu ihr am Fenster stehen. Sie betrachtete seinen Hinterkopf, der patschnass war; Wasser tropfte von

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