Wie Sand in meinen Händen
Dreifamilienhaus am Westende der Center Street.
»Dad meint, ich wäre ein Naturtalent. Ich könnte sogar jemandem sein eigenes Auto verkaufen.«
»Das ist kein Kompliment.« Bernie wandte sich ihrem Bruder zu. »Und außerdem falsch. Dad schließt von sich auf andere. Du könntest nicht einmal jemandem, der friert, eine Decke verkaufen.«
John musterte sie eindringlich. Er war dreizehn und Bernadette fünfzehn. Sie war der Inbegriff des roten irischen Typs der Familie Sullivan, mit hellem Teint, kupferroten Haaren und graublauen Augen. John repräsentierte dagegen den schwarzen irischen Typ der Dargan-Seite, hatte pechschwarze Haare und strahlend blaue Augen. Sie lächelte ihrem attraktiven Bruder zu.
Bernie hätte ihm gerne über die Wange gestrichen, aber John war in einem Alter, in dem er solche Zärtlichkeiten als peinlich empfand. Wenn er nur wüsste, was sie sah, tief in seinem Inneren verborgen. Sie hatte ihren Bruder immer heiß und innig geliebt und das Gefühl gehabt, ihm mitten ins Herz schauen zu können. Sie hätte ihm gerne gesagt, dass er eine Seele besaß, auf die er stolz sein konnte, aber sie hielt sich zurück, aus den besten Gründen, die eine ältere Schwester nur haben konnte.
Schweigend deutete sie aus dem Fenster. An Westende der Center Street befanden sich überwiegend Mietobjekte – kleine Wohnblocks und Dreifamilienhäuser. In diesem Viertel der von polnischen Fabrikarbeitern wimmelnden Stadt hatten früher eine Zeitlang die Iren die Mehrheit gebildet. Nun waren die Puertoricaner in der Überzahl. Die Gebäude bedurften dringend eines neuen Anstrichs. Bei einigen war das Holz der Veranda morsch und hing durch. Bernie wusste, dass einer ihrer reichen Nachbarn mehrere Wohnhäuser in dieser Gegend besaß. Sein Vater hatte sie damals an die Iren vermietet, nun wohnten die Latinos dort.
»Dad würde sogar Leuten wie diesen eine Versicherung andrehen, wenn er könnte«, meinte Bernie.
»Ich auch.«
»Er würde sie ihnen aufschwatzen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Schau hin, John.«
»Da ist doch niemand zu sehen.« John blickte aus dem Busfenster. Die Straßen waren von hohen, schmutzigen Schneehaufen gesäumt und menschenleer.
Dann schau in die Häuser hinein,
hätte sie ihm am liebsten gesagt, aber sie hielt sich zurück. Er würde die Fähigkeit, hinzuschauen, selbst entdecken müssen. In jenem Jahr hatte sie ihm zu Weihnachten seinen ersten Fotoapparat geschenkt: die Swinger, eine Polaroidkamera. Es war das einzige Modell, das sie sich leisten konnte, eine weiße Kunststoffkamera mit einem schwarzen Riemen, die man am Handgelenk tragen konnte. John hatte das Geschenkpapier aufgerissen und grinsend den Blick gehoben, als sie die Melodie aus der Fernsehwerbung angestimmt hatte:
»Meet the Swinger, Polaroid Swinger …«
»Toll, Bern.« Er strahlte. »Danke.«
»Bitte sehr.«
»Die ködern die Leute mit dem Film«, meinte ihr Vater. »Die Kamera ist aus Plastik, billig in China hergestellt. Wie könnten sie das Ding sonst für weniger als zwanzig Dollar verscherbeln? Der Film kostet dagegen ein Vermögen. Damit macht die Firma Kohle. Und mit der Entwicklung der Fotos.«
»Die Filme müssen nicht entwickelt werden, Dad.« John las die Bedienungsanleitung und begann, die Kamera zu laden. »Das ist eine Sofortbildkamera, die entwickelt die Bilder automatisch. Hallo Bernie, lächeln!«
Er hatte seine erste Aufnahme gemacht. Bernie erinnerte sich noch heute daran; die Familie hatte die Köpfe zusammengesteckt und gespannt darauf gewartet, dass das Bild klar wurde. Der harsche, beißende Geruch nach Chemikalien vermischte sich mit dem Duft des Weihnachtsbaums – einer Weißfichte –, des Specks und des Kaffees vom Weihnachtsfrühstück, mit dem Zigarettenrauch der Eltern und dem schalen Geruch des Whiskys, dem ihr Vater am Vorabend reichlich zugesprochen hatte.
Dann, als das Foto schließlich zum Leben erwachte, war es, als geschähe mit John das Gleiche. Er schlüpfte in Stiefel und Parka und stürmte mit seiner neuen Kamera in den Schnee hinaus. Er machte Fotos von dem weißen Pulverschnee, der die glänzenden grünen Rhododendronblätter wie Puderzucker überstäubt hatte, von Steinen und Teer, die von den vorbeifahrenden Schneepflügen hochgewirbelt und unter Schneeklumpen begraben waren, und von Ästen und Zweigen, die unter dem schweren Gewicht des Schnees gebrochen waren.
Als Bernie nun am Fenster des Konvents stand, wusste sie, dass ihrem Bruder diese Gabe
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