Wie Sand in meinen Händen
sollten. Doch stattdessen saß sie schweigend da und wartete.
»Er ist bereits entlassen worden?«,
fragte Regis.
»Ja.«
»Wann?«
»Vor sechs Monaten. Wie im Brief erwähnt –«
»Wolltest du uns das verheimlichen?«, fragte Regis mit schriller Stimme.
»Bestimmt nicht, Regis«, wandte Cecilia ein. »Und abgesehen davon ist das doch egal; Hauptsache, er kommt nach Hause.«
»Aber warum hast du nichts gesagt, Mom?«
»Weil ich es selbst erst vor ein paar Tagen erfahren habe.«
»Warum ist er nicht gleich nach Hause gekommen? Wieso ist er so lange weggeblieben?«, fragte Regis.
»Dein Vater hat eine schwere Bürde zu tragen«, sagte Bernie, und Honor war ihr dankbar, dass sie in die Bresche sprang. »Er leidet unter Schuldgefühlen. Er hat den Tod eines Menschen auf dem Gewissen. Und das tut ihm unsäglich leid. Außerdem war er im Gefängnis. Der Gedanke, was ihr seinetwegen durchmachen musstet, ist eine Qual für ihn.«
»Deshalb hat er beschlossen, sich aus unserem Leben auszuklinken?«, fragte Regis. »Agnes, hast du das gehört?«
Honor sah Agnes an, die reglos dasaß, die Augen geschlossen, die Hände zu Fäusten geballt.
»Er muss einsam sein«, meinte Cece.
»Wo ist er jetzt? Wo wurde der Brief aufgegeben?«, wollte Regis wissen.
»Keine Ahnung. Auf dem Umschlag war weder ein Stempel noch eine Briefmarke, er wurde von einem Boten überbracht. Danke Bernie, dass du ihn zum Cottage gebracht hast …«
»Das war ich nicht.«
»Ist das nicht offensichtlich?«, rief Cece. »Er muss ihn selbst hergebracht haben!«
»Danke, lieber Gott«, flüsterte Agnes.
»Dann ist er schon hier!«, sagte Regis, und Honor spürte, wie eine Gänsehaut über ihren Rücken lief, weil sie das Gleiche dachte.
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3. Kapitel
A m Abend schlug das Wetter um, es begann zu regnen, und bis zum Morgengrauen goss es in Strömen. Schwester Bernadette war seit den Vigilien auf den Beinen, stand im Kreuzgang zwischen Kapelle und Konvent und blickte durch das Bleiglasfenster, als sich von Osten her graues Licht über die Wiesen und Bäume der Akademie, den Steinmauern und dem Gebäude ausbreitete. Zwei Mitschwestern gingen vorüber, und sie nickten sich schweigend zu.
Das Leben im Kloster folgte einem ganz eigenen Rhythmus. Der Orden, dem sie angehörte, war außergewöhnlich, weil sich die Schwestern entweder für die Kontemplation in Klausur oder für eine Lehrtätigkeit in den klostereigenen Bildungseinrichtungen entscheiden konnten. Als junge Novizin hatte sie sich für die Kontemplation entschieden. Sie hatte zurückgezogen in den Räumen an der Rückseite des Konvents gelebt, ihre Tage in Meditation und Gebet verbracht, Schweigen gelobt und ausschließlich mit Gott kommuniziert. Diese Zeit war ungemein eindringlich gewesen; Bernadette hatte sie genutzt, um Buße zu tun, weil sie viel Kummer und Leid verursacht hatte.
Nach zwei Jahren in Klausur hatte sie das Gefühl gehabt, ihre Schuld sei vergeben. Außerdem fühlte sie sich zur Lehrtätigkeit berufen.
Eigentlich kein Wunder. Sie war eine ältere Schwester nach klassischem Muster; ihr jüngerer Bruder John war ihr erster Schüler. Damals, während ihrer Kindheit in New Britain, und später, als sie nach Black Hall zogen, hatte sie ihm alles beigebracht, was sie wusste. Dabei ging es weniger um Schulbuchweisheiten, sondern vielmehr um praktische Lebenshilfe. Oft scherzten sie, dass Bernadette den Führerschein machen und John auf dem Heimweg ans Steuer lassen würde.
Sie hatte ihm gezeigt, wie man auf Bäume klettert, Schlittschuh und Ski fährt, auf den hohen Bergen hinter dem elitären WASP -Country-Club in New Britain, der sich an der gleichen Straße befand wie ihr Elternhaus. Das Motto ihres Vaters lautete: »Kauf das kleinste Haus im besten Viertel, wenn das alles ist, was du dir leisten kannst.« Bernie und John hatten miterlebt, wie ihr Vater in exklusiven Geschäften einkaufte und sein Leben damit verbrachte, zu lächeln und den reichen Mitgliedern des Country-Club, der ihn nicht aufnehmen wollte, Versicherungen zu verkaufen. Bernie hatte ihrem Bruder beigebracht, auf seine innere Stimme zu hören, die ihm sagte, Versicherungsvertreter zu werden sei nicht der richtige Weg für ihn.
»Das Leben hat mehr zu bieten«, hatte Bernie gesagt, als sie an einem kalten Dezembertag mit dem Bus ins Stadtzentrum fuhren, um Weihnachtseinkäufe zu erledigen.
»Mehr was?«
»Das wirst du schon noch merken.« Sie hatte aus dem Fenster geschaut, auf ein
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