Wie Sand in meinen Händen
seinen gewellten schwarzen Haaren auf die Schultern seiner verblichenen grünen Ölkleidung.
»Guten Morgen, Tom.«
»Schwester Bernadette Ignatius.« Er drehte sich halb um, mit blitzenden blauen Augen und einem Lächeln um den oft mürrisch verzogenen Mund. Die Ähnlichkeit mit John war verblüffend.
»Es regnet. Du musst heute nicht arbeiten«, sagte sie.
»Jeder, der sich vom Regen davon abhalten lässt, Mauern auszubessern, sollte sich schleunigst nach einer anderen Arbeit umsehen.« Er hatte dem Reichtum und der Macht, über die seine Familie verfügte, so gründlich den Rücken gekehrt, dass sie bisweilen vergaß, dass er beides besaß.
»Vermutlich hast du recht. Es nieselt ja nur.«
»Und abgesehen davon – ich habe deine Nachricht erhalten.«
»Ich war in Eile.«
»Das habe ich gemerkt. Du hast gestammelt.«
»Ich pflege nicht zu stammeln.«
»Na gut, sagen wir, deine Mitteilung auf meinem Anrufbeantworter war nicht so spitz und rasiermesserscharf formuliert wie sonst.«
»Mir geht derzeit eine Menge durch den Kopf. Wenn ich mich nicht darum kümmere, bricht hier alles zusammen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe Risse im Mörtel entdeckt.«
Er sah sie mit einem herausfordernden Lächeln an. Der rechte Mundwinkel war hochgezogen. Seine Augen verengten sich und blitzten. »Gut.«
»Gut? Was soll das heißen?«
»Hol deinen Regenschirm, Schwester Bernadette. Wir machen einen Spaziergang, damit du mir zeigen kannst, welche Stellen ausgebessert werden müssen.«
Sie warf einen Blick auf ihren Schreibtisch, auf dem sich die Zeugnisse des letzten Frühjahrs stapelten. Sie hatte vorgehabt, sie noch einmal durchzusehen, um eine ungefähre Vorstellung zu bekommen, welches College für die Schülerinnen, die im nächsten Jahr ihren Abschluss machen würden, geeignet wäre. Regis besuchte das Boston College; wenn die Jesuiten sie nur vor Oktober zu einem Sinneswandel bewegen, sie mehr für die Nutzung ihrer eigenen intellektuellen Fähigkeiten begeistern und ihr dabei helfen könnten, einen Bezug zur Spiritualität ihres Ordensgründers Ignatius von Loyola zu finden; vielleicht würde sie es sich dann noch einmal überlegen und auf die geplante Hochzeit verzichten.
»Komm schon, Bernie. Es schadet nicht, wenn du mal einen Vormittag weit weg von deinem Schreibtisch verbringst. Lass uns einen Spaziergang machen.«
»Ach Tom.« Sie lächelte, war im Begriff, den Kopf zu schütteln.
Sie blickte ihren langjährigen Freund an, der auf der anderen Seite des Raumes stand. Er war siebenundvierzig, genauso alt wie sie. Seine gesunde Gesichtsfarbe und die zahlreichen Falten zeugten davon, dass er beinahe sein ganzes Leben im Freien verbracht hatte, tagaus, tagein – das Jahr in Irland ausgenommen. Tom und sie hatten als Erste den Drang verspürt, das Land ihrer Väter zu besuchen – noch vor Johns und Honors Reise, die in einer Katastrophe endete. Es war eine Rückkehr zu den gemeinsamen Wurzeln – denn obwohl die Kellys in den Vereinigten Staaten Arbeitgeber der Sullivans waren, hatten ihre Vorfahren in Irland als Kämpfer und Bauern den gleichen gesellschaftlichen Rang gehabt.
Sie waren nach Shannon geflogen und von dort aus nach Dublin gefahren. Im Norden der Stadt, keine vier Meilen entfernt, hatten die Kellys eine wichtige Rolle in der irischen Geschichte gespielt – im Jahre 1014 nach Christus, in der Schlacht von Clontarf, war Tadgh Mor O’Kelly bei der Verteidigung Irlands in einem blutigen Gefecht gegen die Dänen ums Leben gekommen. Ein riesiges Meerungeheuer hatte sich während des Gemetzels aus den Wellen erhoben, um Tadghs Leichnam und seine gefallenen Gefolgsleute aus dem O’Kelly-Clan zu schützen. Dieses Meerungeheuer konnte man im Wappen der Familie bewundern, das auf dem Siegelring des Francis X. Kelly prangte – den Tom heute trug, als einziges Symbol der Macht, über die seine Familie verfügte.
Bernie dachte an ihre gemeinsame Reise zurück. Schon damals hatte sie gewusst, dass sie ins Kloster eintreten würde. Sie hatte nachhaltige Gründe für diesen Schritt gehabt. Aber Tom und sie kannten einander seit Ewigkeiten, und ihre Faszination und Liebe zu Irland war groß, tief verwurzelt und unbeschreiblich. Sie hatte diese Reise gebraucht, bevor sie das Gelübde ablegte.
Im Flugzeug hatte er ihre Hand gehalten und ihr den Himmel auf Erden versprochen. »Ich werde dir das Dublin der Kellys zeigen, und dann fahren wir nach Cork, der Heimat der Sullivans und Dargans, um zu
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