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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Kräfte.«
    Agnes wünschte, es wäre anders, aber Cece hatte recht. Sie konnte nicht leugnen, dass sie mehr sah und spürte als andere Menschen – nicht immer, aber manchmal. Einmal hatte sie geträumt, dass ihre Mutter sie und ihre Schwestern am nächsten Tag zum Blaubeerenpflücken mitnehmen würde, und genauso war es gewesen. Ein anderes Mal hatte sie im Traum gesehen, wie Regis mitten in der Nacht auf dem Weg ins Bad gestolpert und gegen das Regal geprallt war; dabei war ein gerahmtes Foto von ihr heruntergefallen. Und es war wirklich passiert: Das Glas war zerbrochen, und sie war auf die Scherben gestürzt. Agnes warf ihr nun einen verstohlenen Blick zu, sah die weiße halbmondförmige Narbe, glatt und glänzend, genau unterhalb der linken Kniescheibe. Da war irgendetwas Unheimliches und Hellsichtiges, das sie umgab.
    »Schluss mit dem Hokuspokus, denken wir praktisch«, sagte Regis. »Wir müssen solche Schuldgefühle überwinden, um Dad nicht aufzuregen.«
    »Ich bin ganz deiner Meinung«, sagte Agnes.
    »Wie mag er wohl sein?«, fragte Cece nachdenklich. »Manchmal fällt es mir schwer, mich an ihn zu erinnern. Ob er sich freut, uns wiederzusehen? Ob Mom und er sich wieder gut verstehen werden? Kannst du uns das sagen, Agnes?«
    »Nein, kann ich nicht.« Agnes versuchte sich zusammenzureißen. Sie wünschte, sie würde nicht immerzu ihren Vater vor sich sehen, wie er durch die Gitterstäbe nach einem Stück blauem Himmel Ausschau hielt, die Muskeln völlig verspannt nach der langen Haft, eingesperrt wie ein Löwe im Zoo, mit gebrochenem Herzen, weil seine Familie ihn vergessen hatte.
    »Du kannst schon, aber du willst nicht«, meinte Cece.
    Agnes senkte den Kopf. In Irland hatten alle anderen Mitglieder ihrer Familie die Strände, Steinmauern und Pubs herrlich gefunden. Ihr hatten vor allem die Feenschlösser, Steinkreise und alten Kultstätten mit den aufrecht stehenden Steinblöcken gefallen. Sie hatte jede irische Stadt geliebt, die mit »Lis« anfing, denn das bedeutete, dass hier Feen lebten.
    »Hör auf, sie so zu drängen«, sagte Regis. »Agnes weiß nicht mehr als wir. Wir müssen abwarten.«
    Doch Agnes wusste mehr, als sie zugeben wollte. Ob dieses Wissen auf der Gabe des Zweiten Gesichts oder auf gesundem Menschenverstand beruhte, konnte sie nicht sagen. Aber sie spürte, dass nichts mehr so war wie früher. Wie auch? Ihr Vater hatte einen Menschen getötet. »Denkt ihr jemals an ihn?«, fragte sie leise.
    »An Dad? Natürlich«, erwiderte Regis.
    »Nicht nur an Dad«, sagte Agnes. Sie hatte einen Kloß im Hals. »Ich meine, an diesen Greg.«
    »Greg
White
«, fügte Cece hinzu, als käme es ihr ungebührlich vor, dass ihre Schwester den Mann beim Vornamen nannte.
    »Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.« Regis biss die Zähne zusammen. »Und ihr solltet es genauso halten. Er hat versucht, Dad und mich umzubringen, und seinetwegen musste Dad ins Gefängnis.«
    »Ich habe mich nur gefragt, was für ein Mensch er war und was ihn dazu getrieben hat …«, überlegte Agnes laut.
    »Mom hat gesagt, er sei ein
Taugenichts
gewesen«, erklärte Cece, als gäbe es nichts Schlimmeres, vergleichbar nur noch mit dem Teufel. »Er hat Gott und die Welt gehasst, und Dads Skulptur, weil sie ein
Kreuz
an der Spitze hatte.«
    Agnes wusste das, und es stimmte sie traurig.
    »Ich möchte nur –, begann sie.
    »Ich weiß, du möchtest nichts weiter als Frieden auf Erden, Glück, und dass das Gute siegt.« Regis stieg aus dem Bett und ergriff Agnes’ Handgelenk. Die Schwestern schauten sich an, dann schüttelte Regis Agnes liebevoll und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Du machst dich nur verrückt, wenn du dir Dinge wünschst, die sich dem menschlichen Einfluss entziehen.«
    »Aber …«
    »Deshalb bist du selbst für dein Glück verantwortlich.« Regis hielt weiterhin Agnes’ Handgelenk fest und sah sie mit blitzenden Augen an. »Du musst aufhören, auf Mauern herumzuspazieren und ins Meer zu springen … bildest du dir ein, du könntest eines Tages über das Wasser wandeln? Vergiss es. Und denk nicht mehr an Greg White. Oder an Dad, der im Gefängnis sitzt, weil er inzwischen
draußen
ist. Kapiert?«
    »Ich habe gehört, was Mom aus dem Brief vorgelesen hat.«
    »Na und? Was gefällt dir nicht daran?«
    »Sie sagte, ›aus dem Brief‹«, ließ sich Cece vernehmen. »Vielleicht fragt sie sich, was im Rest steht.«
    »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, meinte Regis. »Genieß den Sommer.

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