Wie Sand in meinen Händen
Lächeln, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Ein kleiner Kuschelbär kam vom Hochbett geflogen und Cecilias Kopf tauchte verkehrt herum vor Agnes’ Gesicht auf.
»Dienstag hat sie auch gesprochen.« Cecilias Kopf wirbelte herum und richtete den Blick auf Regis, wobei die braunen Locken Agnes’ Gesicht streiften. »Hast du sie gestern nicht gehört, als Mom den Brief vorgelesen hat?«
»Das zählt kaum«, meinte Regis. »Wir hatten alle einen Schock.«
»Mom hat beim Vorlesen einiges ausgelassen. Ist euch das aufgefallen?«, fragte Agnes.
»Ja. Was soll eigentlich diese Geheimniskrämerei, jetzt, wo er zurückkommt?«, wunderte sich Cecilia.
Es entstand eine längere Pause; dann brach Agnes das Schweigen. »Kommt er zu deiner Hochzeit?«
»Gesagt hat er es.«
»Wenn Mom ihn lässt«, gab Agnes zu bedenken.
»Natürlich lässt sie ihn.«
»Denkt ihr manchmal darüber nach, was er getan hat?«, fragte Cecilia.
»Du klingst wie Peter«, meinte Regis.
»Denkt ihr darüber nach, ja oder nein?«
»Ja«, erwiderte Agnes. »Wir alle …«
Sie blickte zu Regis hinüber. Sie wusste, dass sie sich in einer anderen Situation befand; sie hatten sich alle in Irland aufgehalten, aber Regis war als Einzige bei ihrem Vater gewesen. Sie hatte den Kampf miterlebt, hautnah, hatte vermutlich Greg Whites heißen Atem auf ihrer Wange gespürt.
»Ich denke nicht mehr darüber nach«, erklärte Regis trotzig. »Ich erinnere mich kaum daran. Alles ging so schnell.«
»Aber du träumst davon«, sagte Agnes. »Weil du uns aufweckst und im Schlaf redest –«
Regis schüttelte heftig den Kopf und hob die Hand, um Agnes zum Schweigen zu bringen. Sie konnte es bis heute nicht ertragen, über das zu reden, was damals passiert war. Während der polizeilichen Ermittlungen war sie traumatisiert gewesen und in das St. Finan’s Hospital eingewiesen worden – zur Schockbehandlung. Als sie sich so weit erholt hatte, dass sie vernehmungsfähig gewesen wäre, hatte ihr Vater ein Geständnis abgelegt, und das Gericht hatte auf ihre Zeugenaussage verzichtet.
»Du rufst ›Hilfe, Hilfe, Hilfe‹, immer wieder«, pflichtete Cece ihr bei. »Manchmal sagst du auch etwas anderes, was ich aber nicht verstehen kann.«
Regis blieb stumm.
Agnes wusste, dass Regis von ihrem Vater träumte, eingesperrt im Gefängnis, hinter einem Fenster mit Gitterstäben, die ihm den Ausblick auf den Himmel versperrten. Dinge, an die Regis im wachen Zustand nicht zu denken wagte, verfolgten sie im Schlaf. Bisweilen fühlte sich Agnes ihrer Schwester so nahe, dass es schien, als würden ihre Träume miteinander verschmelzen; als würden sie die gleichen Wege einschlagen, um ihrem Vater nahe zu sein, was ihnen im wirklichen Leben verwehrt war.
»Wie es ihm wohl geht, wenn er nach so langer Zeit wieder nach Hause kommt«, sagte Cece.
»Keine Ahnung«, antwortete Regis. »Ich wüsste gerne, ob er überhaupt noch ein Wort mit mir redet.«
»Mit dir? Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte Agnes.
»Weil das alles vielleicht nicht passiert wäre, wenn ich ihm nicht gefolgt wäre.«
»Oh Gott«, stöhnte Agnes.
Sie hatte selbst ein schlechtes Gewissen. Sie hätte Regis möglicherweise daran hindern können, auf die Landzunge hinauszulaufen. Aber an jenem verhängnisvollen Tag hatte sie zugesehen, wie Regis ihren Regenmantel angezogen und ihnen eingeschärft hatte, sie keinesfalls bei ihrer Mutter zu verpetzen, obwohl ihr dabei ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen war. Sie hatte wieder einmal eine ihrer dunklen Vorahnungen gehabt – nicht unbedingt vom Tod, aber von einem drohenden Unheil. Manchmal machte sich dieses Flimmern bemerkbar … Funken einer übersinnlichen Wahrnehmung, Andeutungen einer Vision. An jenem Tag hatte sie Regis’ Hand gepackt. »Geh nicht. Daddy kommt gleich zurück«, hatte sie gesagt.
»Ich muss«, hatte Regis erwidert und sich losgerissen. Und die Art und Weise, wie sie »muss« sagte, war genauso zwingend und aufwühlend wie Agnes’ Bedürfnis, sie zurückzuhalten. Und so hatte sie ihre Schwester notgedrungen gehen lassen, an jenem Tag, als ihre Familie zerbrach und Regis alles, was damit zusammenhing, tief in ihrem Inneren verschlossen hatte, bis heute.
»Agnes«, sagte Regis nun. »Wir müssen vor Dads Ankunft etwas klarstellen. Du darfst dir keine Vorwürfe für etwas machen, was ich getan habe.«
»Aber ich
wusste
es.«
»Sie wusste wirklich, was passieren würde«, bestätigte Cecilia. »Sie hat magische
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