Wie Sand in meinen Händen
Kopf voran in eine Mauerspalte stürzte.
Honor schrie auf, und Bernie lief zu ihm, doch Tom war bereits bei ihm, reichte ihm die Hand und zog ihn heraus.
»Hut ab«, meinte Tom. »Alles in Ordnung?«
»Klar doch.« John war mit dem Ellenbogen gegen eine scharfe Steinkante geprallt und stand auf, um die Verletzung zu begutachten. Honors Magen verkrampfte sich, als sie das Blut sah.
Bernie reichte ihm ein Taschentuch. »Du kannst darauf verzichten, den starken Mann zu spielen«, sagte sie. »Ich bin sicher, dass Honor dich auch so mag.«
»Alles in Ordnung?« Honor hielt seine Hand und half ihm, Bernies Taschentuch auf die Schnittwunde zu pressen.
»Ich bin ein Idiot.« Er beugte sich hinunter, um sie zu küssen, geriet ins Stolpern, lehnte sich an sie, eine Hand auf die Mauer gestützt, und lachte über seine eigene Ungeschicklichkeit. Plötzlich stieß er einen leisen Pfiff aus, als seine Hand auf etwas stieß, was nicht dorthin gehörte.
»Schaut euch das an!«
»Was denn?« Tom trat näher.
Alle vier stellten sich vor die Mauer und versuchten, etwas zu erkennen. John zog ein schmutziges, zerfetztes, dunkelblaues Stück Stoff hervor. Trocken, alt, zerrissen und mit ausgefransten Rändern, war es um einen Gegenstand gewickelt, der annähernd quadratisch war und einem Würfel glich. Während die anderen gespannt zuschauten, schlug John das Tuch auseinander. Spinnweben klebten daran und ein dicker weißer Kokon, der bei seiner Berührung zerfiel. Bruchstücke von Eicheln quollen heraus.
»Es ist ziemlich alt, so viel steht fest«, sagte John.
»Es ist weg«, sagte Bernie. Und richtig – das Tuch hatte sich aufgelöst, war zu Staub zerfallen und auf die Erde gerieselt. Was übrig blieb, war eine Steinschatulle, die darin eingeschlagen gewesen war und wie eine Schatzkiste anmutete. Auf dem Deckel befanden sich Markierungen, die Silhouette eines keltischen Kreuzes und Worte, die nach Latein aussahen.
»Los, mach sie auf«, sagte Honor. Sie hielt Johns Arm und spürte die Erregung, die eine unverhoffte Entdeckung mit sich brachte, vor allem, wenn es sich um einen Fund handelte, der so alt und unglaublich war. Noch dazu durfte sie diesen Augenblick gemeinsam mit dem Mann, den sie liebte, und ihren besten Freunden erleben.
John tat wie geheißen. Er öffnete die Schatulle, die das Leben aller vier Anwesenden von Grund auf verändern sollte.
Honor holte tief Luft, als sie sich nun an diesen Augenblick erinnerte, der lange zurücklag. Sie stöberte weiter unten in dem Malkasten – auf der Suche nach einem Brief jüngeren Datums. Es war der Brief von John, der in der Fliegengittertür gesteckt hatte. Sie zog ihn aus dem Umschlag und las den letzten Teil noch einmal, den Abschnitt, den sie Bernie und den Mädchen vorenthalten hatte.
Einen Wunsch habe ich, Honor. Mir geht immer wieder eine Frage durch den Kopf, die ich Dir stellen muss:
Darf ich Dich wiedersehen?
Wenn ja, weiß ich, dass die anderen Fragen beantwortet werden. Erinnerst Du Dich an die Schatzkiste, die wir gefunden haben, und was wir an jenem Tag empfanden? Wie alle Geheimnisse, die sie enthielt, vor uns ausgebreitet lagen und wir überzeugt waren, dass wir sie nur gemeinsam lüften könnten? Auch vor unserer Zeit hatte es Liebe gegeben – eine unvorstellbare, unmögliche Liebe. Wir flogen nach Irland, um sie zu verstehen, weil wir wussten, dass keine Liebe tiefer sein konnte als unsere, und wir wollten uns auf die Spuren unserer Vorgänger begeben.
Wir müssen für alle eine annehmbare Lösung finden, wie es jetzt weitergehen soll.
Lass mich nach Hause kommen, Honor. Und wenn nicht für immer, dann wenigstens zum Lebewohlsagen, damit ich es wirklich glauben kann. Lass mich an Regis’ Hochzeit teilnehmen. Ich bitte Dich darum als ihr Vater und als der Mann, der sie bis heute über alles liebt.
Genauso, wie ich Dich liebe.
John
Sie hatte keine Antwort auf seine Frage. Oder was sie sagen oder tun würde, wenn der Moment kam und sie sich gegenüberstanden. Sie legte den Brief in den Malkasten zurück und setzte sich neben Sisela auf die Fensterbank.
Während sie die alte Katze streichelte, starrte sie aus dem Fenster auf die Steinmauer, die über den Kamm des fernen Hügels verlief. Eine Gestalt tauchte auf – Tom, der einen Schubkarren vor sich herschob.
Ihre Finger strichen sanft über Siselas Fell. Die Katze schnurrte leise. Die Staffelei lockte. Honor sah sie an und dachte an jenen Sommertag zurück, als John und sie im Freien
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