Wie Sand in meinen Händen
Johns Mutter hatte seine künstlerischen Ambitionen missbilligt; sein Vater hatte es als Schande empfunden, dass sein Sohn es ablehnte, in seine Fußstapfen zu treten und die Versicherungsagentur zu übernehmen. Honor dachte daran, dass John und sie darüber gelacht hatten, weil seine Eltern niemals verstehen würden, wie man sich zu so etwas Brotlosem wie Kunst hingezogen fühlen konnte. Was für einen Sinn sollte eine berufliche Tätigkeit haben, die kein Geld einbrachte?
John war es nie um Geld gegangen, trotz seines beruflichen Erfolges. Seine Kunst orientierte sich nicht an der Außenwelt; er verließ sich nicht auf optische Wahrnehmungen wie andere Künstler. Die Abgründe in seinem Inneren waren es, die in seinen Werken zum Ausdruck kamen, und er hatte sich ihnen im Laufe der Zeit stetig genähert.
Von all den Dingen aus der verborgenen Schatulle, die John in der Steinmauer gefunden hatte, beflügelte die abgerissene Fahrkarte für das Passagierschiff von Cobh nach New York seine Phantasie am meisten. Er hatte sich ausgemalt, wie seine Vorfahren in West Cork vom Hungertod bedroht waren, die grauenvollen Lebensumstände, die sie zur Auswanderung zwangen. Angetrieben von seinen eigenen revolutionären Neigungen, verfolgt von den Leiden seiner Familie, hatte er versucht, ihre schmerzlichen Erfahrungen nachzuvollziehen – den emotionalen Verlust, den Abschied von der Heimat, die Suche, das Exil.
Das war ihm gelungen.
John und Tom hatten die Schatulle an einem heißen Sommermorgen gefunden, als sie das Feld rodeten, damit die Nonnen ihren Weingarten anlegen konnten. Das war etliche Jahre vor Sisela gewesen. Noch vor der Geburt der Kinder. Noch vor ihrer Hochzeit. Noch vor Bernies Eintritt in den Orden; damals hatte Honor als Einzige gewusst, dass sie in Erwägung zog, Nonne zu werden.
Die beiden Frauen hatten eine Decke im Schatten ausgebreitet, und Honor half Bernie, ein Aquarellbild zu malen, während die Männer arbeiteten. Die oberste Erdschicht einer Wiese auf dem Gipfel einer Gletschermoräne einen halben Meter tief abzutragen, war mörderisch – John glühte vor Hitze und war schweißgebadet. Er hatte sein T-Shirt über den Ast eines Baumes geworfen, während er die Breithacke schwang und mit den Händen Steine ausgrub, die er zu einem Haufen auftürmte.
Bernie hatte stolz ihren Bruder betrachtet, der inzwischen mit dem Graben aufgehört und begonnen hatte, die Steine zu einer Pyramide aufzuschichten. Dann hatte er abgebrochene Kiefernzweige am Waldrand gesammelt und sie rund um die Felsbrocken zu einem Dreieck angeordnet. In Honors Augen hatte das Werk archaisch und symbolisch gewirkt, erfüllt von der Kraft der Erde und des Waldes. Nach einer Weile kam er herüber, um seine Kamera zu holen, und Honor und Bernie folgten ihm und sahen zu, wie er Aufnahmen machte.
»Herrgott, die Nonnen werden nie ihre Weinstöcke pflanzen können, wenn du das Zeug nicht wegschaffst«, sagte Tom und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken.
»Nonnen, die Wein anbauen«, sagte Bernie. »Glaubst du, dass sie ihn auch trinken?«
»Eure Vorfahren würden sich im Grab umdrehen, wenn sie sehen könnten, wie er diese gottverdammten Felsblöcke in Kunstwerke verwandelt«, sagte Tom.
»Ich glaube, sie würden verstehen, dass ihm das im Blut liegt«, sagte Bernie.
»Diese Felsen waren ihr Verderben, denn ihre ganze Existenz hing davon ab, dass sie die Felder fruchtbar machten und Mauern errichteten, damit der Boden nicht abgetragen wurde – und da kommt dein lieber Bruder daher und drückt uns zusätzlich Arbeit aufs Auge. Willst du wissen, wie ich das sehe?«
»Wie?«, fragte John und schickte sich an, die nächste Aufnahme zu machen.
»Jetzt müssen wir uns doppelt plagen. Nur weil du Picasso nacheiferst, müssen wir die Steine, die wir im Schweiße unseres Angesichts ausgebuddelt haben, jetzt auch noch die ganze Strecke bis zur Mauer karren, damit es so aussieht, als gehörten sie dorthin.«
»Ich dachte, du vertrittst die neue Steinmetzgeneration«, erwiderte John lachend. »Du hast auf das dicke Bankkonto deiner Familie verzichtet, um diese Drecksarbeit zu machen; dann zeig doch mal, was du kannst.«
»Mach ich, mit Freuden –«
»Du willst doch wohl nicht etwa mein Meisterwerk zerstören?«, fragte John, scheinbar betroffen.
»Und ob.«
Sie gingen aufeinander los, als wollten sie handgreiflich werden, doch John stieß ihn beiseite. »Es gibt nur eine Möglichkeit, das Kriegsbeil zu begraben«, meinte er
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