Wie Sand in meinen Händen
Nordwand war mit Moos bewachsen. Es roch nach Erde. Doch Bernie strahlte eine Wärme aus, die Tom unter die Haut ging, ihn an andere Zeiten erinnerte, als sie hierhergekommen waren, als er sie in den Armen gehalten hatte. Sie sah ihn an; dachte sie noch manchmal daran zurück, oder hatte sie die Vergangenheit für immer begraben?
»Kann man danach tanzen?«, fragte er mit rauher Stimme.
Sie antwortete nicht, wandte den Blick ab.
»Sing es mir vor, Bernie.«
»Nicht, Tom.«
Er schloss die Augen. Selbst jetzt, mit Bernie an seiner Seite, überlief es ihn eiskalt. Die Grotte kam ihm wie eine Grabkammer oder Gefängniszelle vor. Er dachte an die Bibel, die sie ihm für John in Portlaoise mitgegeben hatte. Sie stammte aus dem Besitz ihres Urgroßvaters, der sie im Gepäck gehabt hatte, als er mit dem Schiff aus Cork in die Neue Welt gekommen war. Tom fragte sich, ob John während dieser endlos langen sechs Jahre einen Blick hineingeworfen und Trost darin gefunden hatte.
»Schwester Bernadette«, sagte er nun. »Du hättest dir die Mühe sparen können, hierherzukommen, um mir das zu erzählen.«
»Vielleicht wollte ich nur ganz sichergehen.«
»Dass ich nicht auf die Idee komme, die Stelle zuzumauern?«
»Ja.«
»Warum willst du den Text eigentlich erhalten?«
»Als Ire solltest du die Macht der Worte kennen, solltest wissen, wie wichtig es ist, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, wenn ein Mensch gefangen ist.«
»Ich sehe weder Wächter noch verschlossene Türen oder vergitterte Fenster.«
»Es gibt viele Arten, gefangen zu sein.«
»Wer hat das eingeritzt? Ich habe das Gefühl, dass es jemand ist, den du kennst.«
Aber sie ignorierte ihn einfach. Falls ihr der Urheber bekannt war, zog sie es vor, darüber zu schweigen.
»Hat die Grotte nicht eine ähnliche Funktion wie eine Kapelle?«, fuhr er fort. »Willst du damit sagen, es sei völlig in Ordnung, wenn irgendwelche Verrückten Botschaften in den Altar ritzen? Gebete, die ohnehin nicht in Erfüllung gehen?«
Sie hatte die Worte betrachtet, doch nun drehte sie sich um und blickte ihn an. Vielleicht lag es daran, dass sie den größten Teil ihres Lebens außerhalb der Sonne verbracht hatte, aber ihre Haut war noch genauso glatt wie früher und ihre Augen genauso blau und ruhig wie der tiefste Gezeitentümpel am Meeresufer.
»Gebete sind keine Wünsche«, sagte sie. »Sie können nicht ›in Erfüllung gehen‹, sondern bestenfalls erhört werden.«
»Hört, hört, da spricht die Nonne.«
Sie öffnete den Mund, um darauf zu antworten, doch dann schien sie sich eines Besseren zu besinnen. Die unausgesprochenen Worte hingen zwischen ihnen im Raum, nebelhaft wie Gespenster. Wasser, das sich bei den Regenfällen am gestrigen Tag und am Dienstag gesammelt hatte, tropfte auf den Felsenboden, stetig, ohne Unterlass.
»Trotz all deiner idealistischen Anwandlungen, deiner Poesie und deiner irischen Mentalität würde ich sagen, du bist immer noch verbittert, Thomas Kelly.«
»Kein Wunder nach –«
»Bitte nicht, Tom.«
»Denkst du jemals an ihn, Bernie? Das wüsste ich gerne. Sag es mir, wenigstens das …« Tom blickte ihr in die Augen, verspürte das Bedürfnis, sie an den Schultern zu packen und zu schütteln. Sie hatten die ganze Zeit reibungslos zusammengearbeitet, doch plötzlich war er nicht sicher, ob er es auch nur eine weitere Woche in ihrer Nähe aushalten würde. Johns Freilassung hatte das prekäre Gleichgewicht erschüttert.
»Ich denke an die Heimkehr meines Bruders. Er hat seine Schuld verbüßt und ist endlich frei.«
»Frei.« Tom sann über das Wort nach. Mit dem Finger zeichnete er die Worte im Stein nach. Seltsam, dass Bernie sich auf der gleichen Wellenlänge befand, was Johns Haftentlassung betraf.
»Meinst du, dass sie von ihm stammen?« Tom deutete auf die Worte. »Dass er sich mitten in der Nacht hierhergeschlichen und die Nachricht für Honor hinterlassen hat?«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte sie kurz angebunden.
»Ich bin mir da nicht so sicher. Zuzutrauen wäre es ihm. Und wir wissen beide, dass die Steinschneidekunst den Sullivans im Blut liegt.«
Sie starrte stumm die Mauer an.
»Genau das hat uns nach Irland geführt, weißt du noch?«, fuhr er fort. »Wir wollten herausfinden, wo unsere Wurzeln sind, und bei der Abreise blieb unser Herz zurück.«
Er war zu weit gegangen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging aus der Grotte, ließ ihn alleine mit der zerbrochenen Wand und der rätselhaften Inschrift.
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