Wie Sand in meinen Händen
Einen Moment glaubte sie, wieder das Katzenbaby vor sich zu sehen, das Sisela einst gewesen war und das John und sie in der Steinmauer gefunden hatten.
Regis war damals noch klein gewesen, lernte gerade laufen. Sie waren zu einer Malexkursion im Weingarten aufgebrochen, hatten ein Picknick, ihre jeweiligen Staffeleien und Farben, und Papier und Buntstifte für Regis dabei. Plötzlich hatten sie einen kläglichen Laut vernommen und die kleine Katze entdeckt – sie hockte mutterseelenallein auf einem flachen Stein, als hätte sie auf sie gewartet. John hatte sich ihr vorsichtig genähert, und die kleine Katze war ihm buchstäblich auf den Arm gesprungen, vor Hunger miauend.
»Sie ist ausgehungert«, hatte John gesagt.
Honor hatte im Picknickkorb gekramt, ein kleines Stück Räucherlachs abgezupft und der Katze hingehalten; sie hatte es verschlungen und miaut, wollte mehr.
»Schau mal, eine Miezekatze«, hatte John gesagt und die Katze so gehalten, dass Regis sie streicheln konnte.
»Mieka«, hatte Regis nachzuplappern versucht.
»Richtig, Schatz.« John war begeistert, wie immer und bei allem, was Regis tat. »Mieka.«
»Sisela«, sagte Regis plötzlich und versuchte, die Katze auf den Arm zu nehmen.
»Was soll denn das heißen?«, fragte Honor, wie John gebannt von dem Staunen in Regis’ Augen, ihrer Freude beim Anblick der kleinen Katze.
»Keine Ahnung«, meinte John.
Erst später, als sie den Weg entlanggingen, der am Konvent der Nonnen vorbeiführte, deutete Regis auf Bernie, die in ihrem schwarzen Habit inmitten einer Gruppe von Novizinnen stand; bekleidet mit den weißen Ordensgewändern und Schleiern sahen sie aus wie Engel, die noch in die Lehre gingen. »Sisela!«, sagte Regis und lachte.
»Das soll Schwestern heißen!« Johns Blick wanderte von seiner aufgeweckten Tochter zu der weißen Katze, die ihren Kopf aus Regis’ angewinkelter Ellenbeuge hervorstreckte.
»Sie hat das Kätzchen nach Bernie benannt.« Honor ergriff Regis’ Hand. Ihr Vater nahm sie auf den Arm, und Regis trug Sisela.
»Und nach den jungen Nonnen«, fügte Honor mit Blick auf die Novizinnen hinzu.
Heute, annähernd neunzehn Jahre später, lag Sisela im Sonnenschein auf der Fensterbank. Sie erinnerte Honor fortwährend an eine Vergangenheit, die unendlich kostbar gewesen war – nach Johns Festnahme war es ihr lange Zeit unmöglich gewesen, die Katze auch nur anzuschauen. Es schmerzte immer noch, sie beim Namen zu nennen – damit beschwor sie unweigerlich die Erinnerung an den Tag herauf, als sie noch zu dritt und rundum glücklich gewesen waren.
»Ach Sisela.« Honor tätschelte die Katze. Sie schnurrte und streckte den Hals, damit Honor sie an ihrer Lieblingsstelle unterhalb der Kehle kraulen konnte.
Eine Minute später ging Honor zur Vitrine und öffnete eine Tür. In die hinterste Ecke geschoben, stand dort ein alter Malkasten. Er gehörte John – ein Geschenk von ihr, als sie beide so alt wie Regis jetzt waren. Er hatte ihn an jenem Tag benutzt, als sie Sisela gefunden hatten.
John hatte ihn dort gelassen – nicht nur wörtlich, sondern auch im übertragenen Sinn –, als er die Malerei an den Nagel gehängt und sich ausschließlich dem Fotografieren gewidmet hatte. Hin und wieder öffnete sie ihn, atmete den Duft der Ölfarben und des Leinöls ein und rief sich die Zeit ins Gedächtnis zurück, als sie zum Malen und Schwimmen an den menschenleeren Strand gegangen waren.
Er hatte einige ihrer Briefe darin aufbewahrt. Sie zog einen heraus und las:
Liebster,
wirklich faszinierend, Deine neuesten Bilder. Bin wie immer beeindruckt von Deiner Wandlungsfähigkeit, Farbgestaltung und emotionalen Aussagekraft. Was hat Dich bewogen, einen Steinmauer-Zyklus zu malen? Deine Bilder erzählen fraglos eine Geschichte. Von den Geheimnissen des Connecticut River, den Geheimnissen des Long Island Sound. Von den Geheimnissen Irlands.
Das Gespräch mit Deiner Mutter fand ich sehr interessant. Ich bin froh, dass sie sich überhaupt nach Deinen »Kunstwerken« erkundigt. Habe das Wort in Anführungsstriche gesetzt, weil es nach Hobby klingt – was es nicht ist, wie ich weiß. Dein Herzblut steckt in Deinen Bildern. Zu fragen, was Deine Kunstwerke machen, klingt so, als wollte man wissen, ob jemand noch rote und weiße Blutkörperchen hat. Ob überhaupt noch Blut in seinen Adern fließt.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und die Worte verschwammen. Sie wollte den Brief noch einmal lesen, doch sie konnte nicht.
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