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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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den irischen Schmerz erfahren hatte, brachte ihm dessen Schwester Bernie etwas über den Tanz bei. Sie war mit ihrer Familie, deren männliche Angehörige seit jeher als Steinmetze auf der Lohnliste der Kellys standen, zu den Festen am vierten Juli auf Stella Maris geladen gewesen. Hochgewachsen und schön, mit weichen rotgoldenen Haaren und einem biegsamen Körper, der die unbeugsame Willenskraft in ihren blauen Augen Lügen strafte.
    Bei ihrer ersten Begegnung waren sie beide zwölf Jahre alt gewesen. Sie war mit ihrem Bruder die steilen Felsen emporgeklettert – was Kindern streng verboten war –, um oben auf die Grotte zu gelangen und den Ausblick auf die Flussmündung zu genießen. Tom hatte sie entdeckt und war herbeigeeilt.
    »He, runter da!«, hatte er dem rothaarigen Mädchen in dem gelben Kleid zugerufen.
    »Wir schauen uns nur das Wasser an«, hatte sie erwidert.
    »Das dürft ihr nicht. Das ist verboten.«
    »Unser Urgroßvater hat diese Grotte gebaut.« Den Arm um ihren jüngeren Bruder gelegt, starrte sie ihn mit einem vernichtenden Blick an. »Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen gehabt hätte.«
    »Aber
mein
Urgroßvater hat ihn dafür bezahlt«, hatte Tom entgegnet. »Und ich sage euch, ihr sollt da runterkommen.«
    »Aha. Du bist also ein Kelly.«
    »Richtig. Und jetzt macht schon. Ihr könntet runterfallen und auf die Idee kommen, uns auf Schadenersatz zu verklagen, Rotschopf.«
    Sie hatte ihn lange unbewegt gemustert. Es war kein herausfordernder Blick – zumindest nicht nach Kelly-Maßstäben. Aber er war eindringlich und zweifellos abschätzend. Tom hatte einen Schauder verspürt, als würde unter dem forschenden Blick dieser dunkelblauen Augen sein Innerstes nach außen gekehrt. Sie gab sich abweisend und kühler als jedes andere Mädchen, dem er jemals begegnet war. Er fand das seltsam, weil ihr Blick Warmherzigkeit verriet.
    »Komm, John.« Sie hatte ihrem Bruder die Hand gereicht.
    »Warte, ich helfe dir herunter«, hatte Tom sich erboten.
    »Schon gut, Kelly. Wir können alleine auf uns aufpassen.«
    Dann war sie vom Felsen heruntergesprungen und hatte ihren Bruder aufgefangen. Sie rannten davon, um sich den Gästen anzuschließen, die beim Picknick saßen. Tom sah sie noch heute vor sich: das gelbe Kleid wehte hinter ihr her wie Sonnenschein, der über das grüne Gras streifte.
    Von da an hatte er jedes Mal bei allen Festen, die seine Familie gab, nach ihr Ausschau gehalten. Mit ihren roten Haaren und den funkelnden Augen war sie kaum zu verfehlen. Aber erst mit siebzehn hatte er von ihr gelernt, was es mit dem Tanz auf sich hatte. Genau an dieser Stelle, dachte er, als er mit seiner Schubkarre die Grotte betrat. Seine Nackenhaare sträubten sich, als befänden sich die Geister der beiden Heranwachsenden, die sie in ihrem früheren Leben gewesen waren, direkt neben ihm, tanzten im Mondlicht zu den Klängen des Windes.
    »Tom«, hörte er mit einem Mal ihre Stimme.
    Erschrocken fuhr er zusammen.
    Dort, im Halbdunkel der Grotte, kniete sie vor der Statue der Jungfrau Maria. Sie musste ihn kommen gehört haben. Halb hatte sie sich zu ihm umgewandt, der schwarze Schleier verbarg ihr Gesicht. Er sah ihre blasse Haut, die zarten Wangenknochen, die blauen Augen, in denen sich das gedämpfte Licht spiegelte.
    »Schwester Bernadette Ignatius, ich habe nicht damit gerechnet, dich hier anzutreffen.«
    »Ich wusste, dass du heute kommst.« Sie bekreuzigte sich und stand auf. Grashalme und Schmutzflecke befanden sich auf ihrem langen Habit, denn sie hatte auf dem Boden gekniet. Es brachte ihn jedes Mal schier um den Verstand, sie in ihrer Ordenstracht zu sehen.
    »Ich muss noch einige Arbeiten erledigen, bevor die Schule wieder beginnt«, sagte er. »Ich war gerade unten im Strandcottage. Woher wusstest du, dass ich heute Morgen zur Grotte kommen würde?«
    »Intuition.« Sie lächelte.
    »Du bist also hier, weil du mich treffen wolltest?« Er kam sich wie ein Fisch an der Angel vor.
    »Ja. Um dir Anweisungen zu geben.«
    »Anweisungen?«, fragte er lachend. »Glaubst du, dass ich beim Einsetzen der herausgebrochenen Steine Hilfe brauche?«
    »Nein, natürlich nicht. Ich möchte dich nur bitten, darauf zu achten, dass die Worte sichtbar bleiben.«
    »Die Worte?« Er sah zu der Stelle empor, an der jemand etwas in den Stein gekratzt hatte. »Das ist Vandalismus.«
    »Das ist das Hohelied.« Sie stellte sich neben ihn, um zu lesen, was in den Granit geritzt war. In der Grotte war es feucht, die

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