Wie Sand in meinen Händen
Er las sie abermals:
ICH SCHLIEF , ABER MEIN HERZ WAR WACH .
Er hätte Bernie niemals die Genugtuung gegönnt, zu bemerken, dass er die Zeilen gestern Abend in der Bibel nachgeschlagen hatte:
Ich schlief, aber mein Herz war wach.
Horch, meine Geliebte klopft:
»Öffne mir, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene.«
Er nahm seine Maurerkelle und begann, den Mörtel anzurühren. Seine Schulter schmerzte. Wie immer, wenn er im Regen oder an einem Ort arbeitete, der feucht war. Der Schmerz konnte ihn weder von der Arbeit abhalten, noch drosselte er sein Arbeitstempo. Er hatte eine Aufgabe, also erledigte er sie. So war es immer gewesen, seit er erwachsen war: Konzentriert, den Blick auf das Ziel gerichtet, führte er zu Ende, was er begonnen hatte.
Mit dieser Eigenschaft hatte er sich mehr Probleme eingehandelt, als vorauszusehen war. Probleme, die ihn und Bernie betrafen, sie beide.
Leuchtkäfer flimmerten im hohen Gras, ein großer gelber Mond stieg vom Meer auf und im Paradise Ice Cream war der Teufel los. Achtundzwanzig verschiedene Eissorten und ein Schnellimbiss waren in einem kleinen weißen Cottage am Rande der Marsch untergebracht, an der Shore Road, auf der sich der Verkehr vom Strand entlangschlängelte. Hell leuchtende, bunte Laternen schaukelten an einem Draht über dem Parkplatz, der voll besetzt war. Die Leute saßen an Klapptischen unter einer Weide, mit Blick über die Flussmündung auf den Leuchtturm am anderen Ufer.
Regis trug ihre Arbeitskluft, in der sie sich unwohl fühlte – Baumwollhosen und ein blaues Shirt mit dem Paradise-Emblem über der Brust. Sie war aufgeregt und angespannt zugleich – eine Kreuzung aus Weihnachtsmorgen mit Geschenkeauspacken und Abschlussexamen –, seit der Brief ihres Vaters eingetroffen war, vor allem aber nach dem Gespräch, das sie heute Morgen mit ihrer Mutter geführt hatte. Heute Abend hatte sie schon zweimal eine Eiskugel fallen lassen – sie waren auf der Theke statt in der Waffel oder im Becher gelandet.
Der Blick ihrer Mutter hatte ihr ebenfalls zugesetzt. Als sie morgens versucht hatte, über John, die Hochzeit und einen Termin bei Dr. Corry zu sprechen, hatte Honor so gedankenverloren und gequält ausgesehen, dass sie den Spieß am liebsten umgedreht und ihre Mutter gefragt hätte, ob sie ihrem Kummer Luft machen wolle. Was hatte ihre Mutter gesagt – sie sei zu jung, um zu heiraten und Kinder zu bekommen? Ha! Vielleicht sollte sie selber einen Therapeuten aufsuchen, um ihren Realitätssinn testen zu lassen.
Es war einer der vielen Schicksalsschläge, die ihre Familie getroffen hatten, dass Regis zu schnell erwachsen werden musste. Während der langen Abwesenheit ihres Vaters hatte sie sich bemüßigt gefühlt, für ihn einzuspringen, wenn ihre Mutter Trost brauchte, zwei Jobs gleichzeitig anzunehmen, um etwas zum Familientopf beizutragen, und sich um ihre jüngeren Schwestern zu kümmern.
Zu heiraten war im Vergleich dazu ein Kinderspiel.
»Alles in Ordnung, Regis?« Jennifer, ihre Kollegin, blickte zu ihr herüber, als wollte sie ergründen, warum sich Regis’ Schlange so langsam vorwärtsbewegte.
»Nur ein bisschen ungeschickt heute Abend.« Regis wischte einen Klecks Butterscotch-Pekannuss-Eis vom Tresen. »Tut mir leid.«
»Macht nichts«, sagte Jenn. »Noch dreieinhalb Stunden bis wir schließen, und dann haken wir den Abend als unerfreuliche Erinnerung ab.«
Regis lachte und nahm die nächste Bestellung entgegen. Wie immer herrschte Massenandrang – Leute, die den Tag am Strand oder auf einem Boot verbracht hatten und sich zum Abschluss etwas Gutes gönnen wollten. Sie stand hinter der Theke, arbeitete zügig und hob nur gelegentlich den Blick, um zu sehen, wer vor ihr stand. Jedes Mal, wenn ein Mann mit Kindern an der Reihe war, versetzte es ihr einen Schock und ihr Magen verkrampfte sich. Es erinnerte sie an ihren eigenen Vater, und bei jedem hochgewachsenen Mann dachte sie, heute Abend ist es so weit, endlich ist er nach Hause gekommen. Doch das waren kindische Gedanken. Sie war inzwischen erwachsen. Ihr Vater hatte die letzten Jahre ihrer Kindheit verpasst.
Wenn sie all die aufreizend gekleideten Strandmädchen bediente – manche im Bikini, der noch nass war vom Schwimmen nach Einbruch der Dunkelheit, andere in Caprihosen oder einem leichten Sommerkleid – oder die attraktiven Strandjungen in Shorts oder Jeans, einige mit entblößtem Oberkörper, kam sich Regis wie eine geschlechtslose
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