Wie Sand in meinen Händen
Arbeitsbiene vor, das Aschenputtel von Black Hall. Die Bücher in Tante Bernies Bibliothek abzustauben war eine vergleichsweise glamouröse Beschäftigung.
Es war mühselig, den ganzen Abend Eiscreme zu verkaufen, und sie hielt nur durch, weil sie wusste, dass ihr Vater frei war und sich auf dem Heimweg befand. Niemand ahnte, wie ihr bei dem Gedanken zumute war, dass er ihretwegen sechs Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Obwohl sie sich nicht an die Einzelheiten jenes verhängnisvollen, stürmischen Tages erinnern konnte, gelang es ihr seit geraumer Zeit, sich bestimmte Geräusche lebhafter ins Gedächtnis zurückzurufen: die Donnerschläge draußen auf dem Meer, das Gebrüll von Gregory White, der sie beide umzubringen drohte, der dumpfe Schlag, als ihr Vater ihm einen Fausthieb ins Gesicht versetzte.
Sie verdrängte diese Erinnerungsfetzen mit Hilfe von Erinnerungen, die sie fröhlicher stimmten: der irische Akzent, die grünen Wiesen und Felder, die malerischen alten Ruinen von Wehrtürmen und Burgen auf den vielen Hügelspitzen. Am ersten Tag ihres Aufenthalts, nachdem alle die atemberaubende Skulptur ihres Vaters auf der Landzunge gebührend bewundert hatten, hatten sie den Friedhof von Timoleague besucht, wo ihre Urgroßmutter begraben lag – an der Mündung des Argideen River, wo es ausgedehnte Marschen gab, die an Black Hall erinnerten.
In Skibbereen war die Familie ins Paragon gegangen, einen Pub mit dunklen Wänden und Buntglasfenstern. Alle Tische waren besetzt gewesen, doch der Wirt hatte ihren Vater am Arm gepackt und mit seiner wundervollen irischen Stimme gesagt: »Kommen Sie ja nicht auf die Idee, zu gehen!« Er hatte Stühle aufgetrieben, Tische zusammengerückt, und kaum hatte sich Regis versehen, saß die ganze Familie auch schon; dann war jemand auf die Bühne gekommen und hatte auf der Fiedel irische Weisen gespielt. Regis war so glücklich gewesen, dass es ihr beinahe gelang, die Spannung zwischen ihren Eltern zu ignorieren.
»Hallo!«, rief nun jemand, als sie gerade den Eiscremeklecks wegwischte.
»Peter!« Sie hob den Blick und sah, dass er mit Jimmy, Josh, Hayley, Kris und anderen Freunden aus Hubbard’s Point vor der Theke stand. »Ich habe dich heute Abend gar nicht erwartet!«
»Wir waren der Meinung, dass Peter ein Eis und eine Aufmunterung braucht«, sagte Kris. »Wir waren an der Strandpromenade und mussten uns die ganze Zeit sein Gejammer anhören: ›Regis arbeitet heute Abend.‹«
»Stimmt«, pflichtete Josh ihm bei, den Arm um Hayley gelegt. »Immer die gleiche Leier, es wurde schon langweilig.«
»Was soll ich dazu sagen?« Peter blickte Regis unverwandt an. »Ich bin eben ein Mensch, der eingleisig fährt.«
»Schön blöd«, meinte eines der Mädchen, das Regis unbekannt war. Ihr Lachen klang verführerisch, ein elektrisierendes Tremolo. Sie war klein und blond, braungebrannt von Kopf bis Fuß. Das konnte man auf den ersten Blick erkennen, weil sie kaum etwas anhatte: ein winziges Bikini-Oberteil, kurze Jeansshorts, an denen der oberste Knopf fehlte, und Beine bis zum Kinn. »Verliebt sein und aneinander kleben – das ist doch Schnee von gestern, so was haben höchstens unsere Eltern noch gemacht!«
»Hast du eine bessere Idee?«, fragte Kris.
»Abwechslung ist das einzig Wahre«, sagte das Mädchen.
»Nicht für Peter«, sagte Hayley und sah Regis lächelnd an.
»Das Leben ist viel zu kurz, um es nicht in vollen Zügen zu genießen.« Das Mädchen warf Peter einen feurigen Blick zu.
Peter schien ihr keine Beachtung zu schenken, sondern schaute Regis unverwandt an. Warum verspürte Regis dann mit einem Mal das Bedürfnis, sich blitzschnell über die Theke zu beugen und dem Mädchen eine Waffel Mint-Chocolate-Chip-Eis ins Gesicht zu knallen?
»Lass doch die Sprüche, Alicia«, meinte Josh.
»Was heißt Sprüche? Ich bin aus New York, da macht man das so.« Alicia stieß ihn mit dem Ellenbogen an. »Ihr seid hier alle so spießig und provinziell! Letztes Jahr hatte ich noch gedacht, mit Peter könnte man echt Spaß haben, aber dieses Jahr ist er ein totaler Langweiler.
Nächstes Jahr
werde ich dafür sorgen, dass meine Eltern ein Ferienhaus in den Hamptons statt in Connecticut mieten.«
»Gute Idee«, erwiderte Regis.
»Aha, Stutenbeißen.« Alicia musterte Regis mit einem Blick, der nur mäßig belustigt war. Regis lief ein Schauder über den Rücken; ihr wurde klar, dass sie das Mädchen herausgefordert hatte und nun von ihr ins Visier genommen
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