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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Agnes ihre Runden. Um diese Zeit bot die Akademie ein völlig anderes Bild. Alle lagen friedlich in ihren Betten; weder ihre Mutter noch ihre Schwestern hörten, wie sie sich aus dem Haus stahl. Regis war nach der Spätschicht am Eisstand erschöpft in den Schlaf gefallen. Sie trug noch ihre Arbeitskluft. Bevor sie sich auf den Weg machte, küsste Agnes ihre Schwestern auf die Stirn, dabei regten sie sich kaum. Sisela war die Einzige, die sie gehen sah, beobachtete sie mit ihren großen grünen Augen. Es war, als wollte die alte Katze ihr ihren Segen erteilen und sie ermutigen.
    Einmal, im letzten Jahr, hatte sich Agnes in den Konvent geschlichen, wo die Nonnen in Klausur lebten. Laien war der Zutritt zu diesem Bereich des Klosters verboten. Sie hatte Angst gehabt, eine Sünde zu begehen, wenn sie unbefugt dort eindrang, doch dann erinnerte sie sich, wie Tante Bernie sie und ihre Schwestern mitgenommen hatte, hinter die Mauer, die den Konvent vom Rest der Klosteranlage trennte. Sie waren damals noch klein gewesen und neugierig auf das Leben, das die Nonnen führten. Tante Bernie hatte gesagt: »Wir sind genau wie alle anderen Menschen, außer dass wir in einem Konvent leben. Daran ist nichts Geheimnisvolles.« Und das war es auch nicht, nicht wirklich. Es gab dort Schlafzimmer, Badezimmer, Küche, Wohnzimmer und ein Esszimmer mit einem langen Tisch, alles ganz normal.
    Doch für Agnes war das eine andere, wundersame Welt. Und die Nonnen
waren
auch anders. Sie betrachteten die Welt außerhalb ihrer Mauern auf ganz eigene Weise, ein Grund, ihr den Rücken zu kehren. Mochte ihre Tante sagen, was sie wollte, Agnes wusste, dass Nonnen sich nicht mit normalen Sterblichen vergleichen ließen. Sie hatten ein besonders weiches Herz. Und Gefühle, die tiefer gingen. Sie konnten das Leid der ganzen Welt nachvollziehen, bisweilen so sehr, dass jeder Atemzug schmerzte. Immer, wenn sie ihre Stundengebete anstimmten – Vigil, Laudes, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet, oder die Psalmen, die angefüllt waren mit Gefühl, Sehnsucht und Lobpreisungen –, klangen die Nonnen wie Engel, die aus irgendeinem Grund auf Erden weilten.
    In den frühen Abendstunden, während der Vesper, wenn die ersten Lichter im Konvent und im Refektorium angingen, stand Agnes reglos da und lauschte; der Gesang der Nonnen drang ganz leise zu ihr herüber, übertönte gerade eben das Geräusch der Wellen, die ans Ufer brandeten, und das Rascheln des Windes in den Blättern der Bäume. Die Klänge waren unbeschreiblich, wunderschön und herzergreifend.
    Die sanften und dennoch durchdringenden, herrlichen Stimmen sangen Psalmen, einhundertfünfzig an der Zahl. Sie erklangen bei allen Stundengebeten, beginnend um halb vier Uhr morgens mit der Vigil. Die Nonnen hatten einander gegenüber in zwei Reihen Aufstellung genommen, zu beiden Seiten des Mittelganges, wobei die eine Seite die beiden ersten und die andere die beiden zweiten Zeilen sang; es klang, als versuchten sich die Engel beim Erklimmen der Himmelsleiter gegenseitig zu überbieten.
    Als sie sich in den Konvent geschlichen hatte, war sie an dem Trakt vorbeigegangen, in dem Tante Bernie und die Schulschwestern wohnten, und zum Kreuzgang gelangt. Dort, hinter einer schmiedeeisernen Tür mit filigranem Muster, begann das Kloster, der abgeschlossene Bereich, in dem sich die kontemplativen Schwestern aufhielten. Hier hatte Tante Bernie am Anfang gelebt, gleich nachdem sie in den Orden eingetreten war. Agnes hatte keine Ahnung, warum, aber sie wusste, dass Tante Bernie viel erlitten hatte. Das verrieten ihre überschatteten blauen Augen.
    Agnes hatte die schmiedeeisernen Verzierungen mit beiden Händen ergriffen und sich inständig gewünscht, auf der anderen Seite der Tür zu sein. Ihr Herz war schwer, Tränen stiegen in ihre Augen und sie zitterte am ganzen Körper vor lauter Sehnsucht. Sie war für das Leben im Kloster bestimmt, dessen war sie ganz sicher. Abgeschieden von der Außenwelt, weit entfernt von Kummer und Leid. Nicht weil die Menschen dort draußen so schrecklich waren – ganz im Gegenteil. Es lag vielmehr daran, dass sie sich ihnen so verbunden fühlte. Sie über alle Maßen liebte. So sehr, dass sie es manchmal kaum ertragen konnte und fürchtete, sterben zu müssen – vor lauter Liebe zu ihrer Familie, so wie sie gewesen war, bevor ihre heile Welt in Irland zerbrach. Diese Liebe war in den sechs Jahren, die seither vergangen waren, noch gewachsen.
    Niemand hatte sie in jener Nacht,

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