Wie Sand in meinen Händen
verlieh ihnen Auftrieb. Sie hatten sich geküsst, voller Leidenschaft, und Peters aufgewühlter, seliger Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er so etwas zum ersten Mal mit einem Mädchen erlebte. Für andere mochte das belanglos sein. Aber für sie war das eine große Sache, und für Peter ebenso. Sie hatten eine unsichtbare Grenze überschritten. Und sie liebte ihn dafür, dass er ihr die Führung überließ.
»Mmmh«, sagte Alicia nun, als sie ihr Eis entgegennahm; dann leckte sie an der Sahne und schnappte sich die Kirsche, ohne die Hände zu benutzen. »Lecker.«
»Guten Appetit«, sagte Regis, an alle gerichtet.
»Regis.« Peter beugte sich vor und nahm ihr seine Waffel mit Mokkaeis ab. »Danke. Wann kannst du hier weg?«
»Um elf. Wenn wir schließen.«
»Ich hole dich ab. Ich kann es kaum erwarten, Regis. Wie immer …«
»Ach Peter«, sagte sie, überwältigt von ihrer Liebe zu ihm, und beugte sich vor, um ihm rasch einen Kuss zu geben. Die Schlange wurde zusehends länger, und die Leute warteten ungeduldig darauf, endlich an die Reihe zu kommen.
»Ich liebe Mokkaeis – lass mich mal probieren.« Alicia beugte sich vor und kostete von Peters Waffel. »Lecker«, sagte sie abermals, den Blick über seine Schulter auf Regis gerichtet.
Warum ließ Peter sie gewähren? Der Anblick war für Regis wie ein Schlag in die Magengrube. Sie schloss die Augen, um das Bild zu verdrängen, und mit einem Mal geschah etwas Seltsames: Eine Erinnerung an Irland schoss ihr durch den Kopf, an die Zeit, als die ganze Familie dort gewesen war, und sie sah Gregory White vor sich, tot auf der Klippe. Sie hatte damals einen Schock erlitten, ihre Erinnerungen waren eingefroren wie die Einschlüsse in Bernstein. Nun sah sie Treibholz vor sich, abgefallen von der Skulptur. Nein – von Gregory White abgerissen. Es lag auf dem Boden. Dann war es mit Blut bedeckt, wurde im hohen Bogen ins Meer geworfen.
Letzte Nacht hatte sich dieses Bild zum ersten Mal in ihr Bewusstsein geschlichen – als wäre es zum Leben erwacht, eine Erinnerung, die sie am liebsten für immer in das tiefste Labyrinth ihres Gedächtnisses zurückgedrängt hätte, zu einem anderen Bruchstück der Erinnerung, das ihr gewärtig war: ihre Mutter, die weinte und schrie, dass sie die Mädchen niemals nach Irland hätte bringen dürfen und schon immer gewusst hatte, dass irgendwann etwas Schreckliches passieren würde.
»Du setzt dich über alle Regeln hinweg, glaubst, du könntest machen, was du willst«, hatte sie geschrien. »Das hast du nun davon …«
»Honor«, hatte John gesagt, als die Polizei ihn abführte. »Ich konnte doch nicht ahnen, dass so etwas passiert. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Regis mir nachgeht.«
»Das hättest du aber wissen müssen! Sie würde dir bis ans Ende der Welt folgen, ohne Rücksicht auf Verluste. Und genau das hat sie getan, kapierst du das endlich, John?«
»Rühr ihn nicht an«, hatte Regis geflüstert, immer wieder, wie ein Zombie. »Rühr ihn nicht an, rühr ihn nicht an, rühr meinen Vater nicht an.«
Niemand hatte verstanden, was sie sagte. Sie hatten gedacht, dass ihre Zähne klapperten.
Rühr ihn nicht an, rühr ihn nicht an.
Rühr ihn nicht an,
dachte Regis nun, als sie Peter nachsah. Was war das für eine Erinnerung? Hatte sie diese Worte wirklich gesagt, und wenn ja, warum? Oder waren es nur verrückte Phantasievorstellungen, die sie aus dem Nichts heraufbeschwor, weil sie nichts Besseres zu tun hatte, als auf heißen Kohlen zu sitzen und zu warten, bis ihr Vater nach Hause kam?
Die Clique aus Hubbard’s Point stieg in ihre Autos. Regis’ Hände zitterten immer noch, als sie die nächsten in der Schlange bediente. Sobald Peter weg war, kehrten ihre Gedanken zu dem Thema zurück, das sie zu Beginn des Abends beschäftigt hatte: Väter und Kinder, die zum Paradise kamen, um Eis zu kaufen. Einmal, als sie den Blick hob, meinte sie ihren Vater unter den Bäumen am Rande des Parkplatzes stehen zu sehen.
»Dad!«, murmelte sie und ließ eine Chocolate-Chip-Eiskugel fallen, die direkt auf der Kappe ihres Turnschuhs landete.
Als sie wieder aufsah, war der Mann verschwunden. Sie machte sich daran, die Bescherung auf dem Fußboden aufzuwischen und noch einmal ganz von vorne mit der Bestellung anzufangen.
Komm endlich nach Hause, beeil dich,
dachte sie, während sie eine Waffel mit Chocolate-Chip-Eis füllte.
Ich brauche dich, Daddy …
Nach Mitternacht, als alle außer Sisela schliefen, drehte
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