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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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je zu Gesicht bekommen. Als sie nun ein Miauen vernahm, wusste sie, dass die Katze ihr auch dieses Mal gefolgt war, bei ihr war, obwohl sie sie nicht sehen konnte.
    Sie schauderte, das Herz ging ihr auf. Die Kamera war vergessen, was zählte, war allein der Augenblick, das Hier und Jetzt. Sie fühlte sich von einer namenlosen Sehnsucht ergriffen. Agnes lief oben auf der schmalen, gewundenen Mauer entlang und suchte den Strand mit den Augen ab, wo sie in den anderen Nächten eine Bewegung, einen Schatten erspäht hatte.
    In jenen Nächten hatte sie Visionen gehabt, von einem Mann, der im Schatten stand, einem Heiligen, den sie mit ihren Gebeten herbeigerufen oder heraufbeschworen hatte, einem rothaarigen Engel, der über sie wachte, solange ihr Vater weg war. Wenn sie schnell genug lief, hoch genug sprang, uneingeschränktes Vertrauen zu ihrem Schutzengel hatte, würde er sich aus seinem Versteck wagen, strahlend vor Liebe, würde die Flügel ausbreiten und sie an einen Ort tragen, an dem sie sich sicher und geborgen fühlte – gleich heute. Wenn ein solches Wunder möglich wäre, hier am Strand, dann vielleicht auch an einem anderen Ort, in Irland, um die Zeit zurückzudrehen, das Geschehene ungeschehen zu machen und ihre Familie wieder zusammenzubringen.
    Agnes hörte, wie die Wellen gegen die Felsen schlugen. Sie beschleunigte ihren Schritt, nahm Anlauf. Dann sprang sie.
    Ein Sprung vom Ende der Mauer, der nicht enden wollte, hoch über den Wellen, die an den Strand schwappten; dann schäumten ihre Zehen die Oberfläche auf. Das Wasser an ihren Füßen fühlte sich kalt an, und sie tauchte unter, mit dem Kopf voran. Sie sah Sterne, Schwärze. Sie blinzelte, um das Salzwasser aus ihren Augen zu entfernen, berührte ihre Stirn. Sie musste gegen einen Felsen geprallt sein. Etwas Heißes, Feuchtes lief über ihr Gesicht – Blut.
    »Bitte!«, rief sie flehentlich. »Bitte!« Unwillig, ihren Traum oder ihre Vision aufzugeben, strich sie das nasse Haar zurück, presste ihre Faust auf die Platzwunde über dem Auge, spürte, wie die Wellen ihren Körper umspülten.
    Es herrschte Flut, und die Wellen waren stark. Sie plätscherten nicht still vor sich hin, sondern zerrten an ihr, versuchten, sie aufs Meer hinauszuziehen. Ihr Blut vermischte sich mit dem Salzwasser, und sie schmeckte nichts als Salz, hatte nur noch den Wunsch, sich vom Meer tragen zu lassen, wohin auch immer. Sie war zu schwach, um dagegen anzukämpfen oder gegen die Strömung zu schwimmen, war nur noch imstande, sich von ihr mitnehmen zu lassen.
    Sie hörte ein Plätschern. Endlich, er war da – er kam auf sie zu und fing sie auf, hob sie hoch. Seine Arme umschlangen sie, so dass sie nicht ins Meer zurückfallen konnte. Agnes vernahm eine Stimme, spürte, wie er ihre Hand ergriff. Sie fror, war müde, zu erschöpft, um zu begreifen, was er sagte. Die Stimme klang vertraut, er kannte ihren Namen:
    »Agnes, mein Kind … du musst durchhalten, darfst nicht aufgeben. Ich bin bei dir.«
    Sie blickte zum Himmel empor. Ein Windstoß kam vom Sund herüber, erfasste sie zwischen den Schulterblättern, dann wurde sie in die Höhe gehoben. Ihr stockte der Atem, als sie Schwingen spürte, die ihre Wangen streiften. Arme umfingen sie, zogen sie hinauf, höher und höher. Der Wind ließ das Nachthemd gegen ihre Beine flattern.
    Was würden ihre Schwestern sehen, unten auf der Erde, falls sie zufällig aus dem Fenster blickten? Wahrscheinlich würden sie nur einen hellen Schein wahrnehmen und sich vorstellen, es sei Nebel, der vom Meer herüberwehte. Oder sie würden meinen, Engel entdeckt zu haben, die heimlich den Konvent besuchten. Oder Sternschnuppen. Aber es war nichts dergleichen. Der helle, von der Erde aus sichtbare Schein stammte von der Glimmererde, winzigen, glänzenden Partikeln, die nach dem Lauf über die Mauer an Agnes’ Fußsohlen hafteten.
    Das war alles … Sie versuchte, sich das Blut aus den Augen zu wischen, aber es floss inzwischen in Strömen. Deshalb schloss sie einfach die Lider und spürte, wie sie durch die Nacht flog.

[home]
    7. Kapitel
    C ecilia hatte nicht einschlafen können. Das gelang ihr nie in den Nächten, in denen Agnes draußen war. Alle dachten, Nesthäkchen der Familie hätten keinen blassen Schimmer, dabei wussten sie am besten Bescheid. Sie mussten achtsam sein, um sicherzugehen, dass die älteren Geschwister unbeschadet nach Hause zurückkehrten, nicht von der Mutter erwischt wurden und alles in Ordnung war.
    Wegen

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