Wie Sand in meinen Händen
Regis hatte sich Cecilia nie den Kopf zerbrechen müssen. Bei ihr wusste man genau, was auf einen zukam: Ärger. Jeder wusste das und rechnete damit. Sie konnte einfach nicht anders – sie war von Natur aus draufgängerisch und ungebändigt. Das Gute für Cecilia und Agnes war, dass Regis sie auch an dem Spaß teilhaben ließ.
Sobald Regis ihren Führerschein hatte, brachte sie Agnes und Cecilia das Autofahren bei. Agnes, die zu dem Zeitpunkt fünfzehn war, fand das herrlich. Doch was Cecilia anging, die erst zehn gewesen war – das stand auf einem anderen Blatt. Anfangs hatte sie auf Regis’ Schoß gesessen, weil sie noch nicht groß genug war, um mit dem Fuß an die Bremse zu kommen. Während sie durch die Straßen rund um die Akademie kurvten, war sich Cecilia wie Toad in
Der Wind in den Weiden
vorgekommen, die Kröte, die ungeachtet aller Hindernisse in ihrem roten Automobil durch die Gegend brauste.
Immer, wenn auf Star of the Sea etwas Verrücktes passierte, war Regis die Erste, die in Verdacht geriet. Letzten Herbst, als plötzlich Kürbisse jeden Schornstein krönten, hatte es keinen Zweifel gegeben, wer auf die Dächer geklettert war und sich diesen Scherz erlaubt hatte. Und vor drei Jahren, als Nonnen aus dem Mutterhaus in Kanada zu Besuch da waren und nach ihrer Rückkehr aus der Blauen Grotte eine Statue des heiligen Ignatius in einem der Betten vorgefunden hatten, war Tante Bernie auf Anhieb klar gewesen, auf wessen Konto dieser Streich ging.
Nun lag Regis friedlich schlafend in ihrem Bett, in dem Raum, den sie miteinander teilten, atmete tief und gleichmäßig, als könnte sie nichts anfechten.
Cecilia seufzte laut, drehte sich auf die andere Seite und rüttelte dabei ein wenig am Bettgestell – vielleicht wurde Regis von dem Lärm wach, so dass es ihr erspart blieb, das Problem alleine anzugehen.
Cecilia wusste nicht, was sie tun sollte. Sie würde kein Sterbenswort verraten, nicht einmal Regis. Aber sie hatte in diesem Sommer mehrmals beobachtet – und in der letzten Woche noch regelmäßiger als sonst, wie Agnes sich zu nachtschlafender Zeit davonstahl. Immer kurz nach Mitternacht. Sie wusste es deshalb so genau, weil sie gehört hatte, wie die Uhr zwölf schlug. Sie hatte die Augen aufgeschlagen und sie am Fenster entdeckt – einmal stehend, zweimal kniend –, Sisela auf dem Fensterbrett neben sich.
Cecilia hatte so reglos wie eine Statue dagelegen und durch die zusammengekniffenen Augen gespäht. Ihre Schwester hatte zum Himmel emporgeschaut und die Sterne mit ihren Blicken abgesucht, die Hände gefaltet wie zum Gebet. Cecilia glaubte Agnes’ Herzschlag spüren zu können, quer durch den Raum – er war so kräftig, dass er die Luft in Schwingung versetzte. Als es zum ersten Mal passierte, schien die Mondsichel durch das Geäst der Bäume; Sisela war aus dem Fenster gesprungen, und Agnes war der weißen Katze durch das silberne Mondlicht gefolgt.
»Wo warst du?«, hatte Cece geflüstert, als Agnes völlig durchnässt zurückgekehrt war.
»Glaubst du, dass Engel rote Haare haben können?« Agnes’ Worte klangen so absonderlich, dass Cece sich fragte, ob sie das Ganze nur geträumt hatte.
»Was soll das,
wovon redest
du?«
»Nichts«, hatte Agnes erwidert und sie in ihrer typischen Art entrückt angelächelt. »Schlaf weiter.«
Das zweite Mal war die Nacht stockfinster gewesen, jeder Baum und jeder Busch war in dichten Nebel gehüllt, als wäre die ganze Welt in einen Dornröschenschlaf versunken. Cecilia hatte gesehen, wie Sisela davonschlich und in den Schatten verschwand. Als Cecilia sah, dass Agnes ihr abermals hinterherkletterte, wurde ihr bange und ihr Herz sank. Denn sie hatte beobachtet, wie ihre Schwester auf die Mauer sprang, die auf der Rückseite des Hauses verlief, quer durch den Weingarten, und hatte gewusst: Agnes turnte wieder auf den Mauern herum.
Normalerweise machte sie das tagsüber – sie sprang hoch und lief auf den Mauern entlang, die das Gelände der Akademie kreuz und quer durchzogen. Cecilia fand, dass es aussah, als machte es Spaß, und hatte es auch einmal probieren wollen. Doch Agnes hatte sie ertappt und daran gehindert, die Hände auf ihren Schultern. Ihr Blick war so eisig, dass Cecilia erschrak.
»Du kannst am Strand herumlaufen oder im Weingarten oder in der Marsch, Cece. Aber die Mauern sind tabu. Du könntest dir den Knöchel verstauchen und abstürzen …«
Was trieb Agnes mitten in der Nacht um? Warum musste sie nach Einbruch der
Weitere Kostenlose Bücher