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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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als sie sich zum ersten Mal ins Kloster geschlichen hatte, bemerkt. Genauso wenig wie in den anderen Nächten. Hin und wieder hatte sie jedoch das Gefühl, beobachtet zu werden. Einmal erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf etwas Rotes – wie ein Fuchs oder ein Geist mit roten Haaren –, das über die Steinmauer spähte. Und manchmal glaubte sie in einem Moment etwas Weißes zu entdecken, weiße Spitzen wie von Engelsschwingen.
    Agnes war fest davon überzeugt, dass sie Visionen hatte, von einem Engel mit roten Haaren.
    Visionen waren hier keine Seltenheit. Niemand wusste Genaues, aber alle Mädchen munkelten, dass Schwester Bernadette Ignatius eine Marienerscheinung gehabt hatte. Tante Bernie! Auf dem Anwesen der Akademie! Warum sollte Agnes also nicht auch Visionen haben?
    Als sie sich nun aus dem Cottage der Familie stahl, blickte sie nach links und rechts. Sie hatte ihre Kamera über die Schulter gehängt, um die Erscheinung, falls sie noch einmal auftauchte, im Bild festhalten zu können. Vom Meer her wehte ein lauer Wind, der nach Salz schmeckte und durch das Gras strich, durch das sie nun lief, mit nichts anderem als ihrem Nachthemd am Leib. Sie war in Eile und hatte keine Zeit gehabt, sich umzuziehen.
    Als sie zur ersten Mauer gelangte, sprang sie hinauf und lief oben weiter. Die Steine fühlten sich rauh und schartig unter ihren bloßen Füßen an, aber das störte sie nicht. Mit atemloser Spannung und Vorfreude sah sie dem Wunder entgegen, das sich ihr gleich offenbaren würde. Der Mond schien sich in den Wipfeln der Bäume verfangen zu haben, denn sein Licht war gebrochen, warf Schatten auf Rasen und Gestein. Agnes betete, während sie lief und von einer Mauer zur nächsten sprang.
    Auf dem Gipfel des Hügels holte sie tief Luft. Hier gab es keine Bäume; der Mond stand in seiner ganzen Pracht am Firmament. Sein Licht überflutete das Land, neigte sich sanft dem Long Island Sound zu und tauchte hinein. Agnes’ Herz raste; hoffentlich ging ihre Rechnung auf. Sich eine Vision zu wünschen war eine Sache, sie bewusst einzuplanen stand auf einem anderen Blatt.
    Sie hatte um Führung und himmlischen Beistand gebetet. Die wundersamen Augenblicke, auf die sie hoffte, waren ein Geschenk, und sie war sich nicht sicher gewesen, ob es ihr zustand, mehr zu erbitten, als ihr freiwillig gewährt wurde. Aber sie war nur ein Mensch und voller Zweifel, sie fragte sich immer wieder: Hatte sie eine echte Vision gehabt?
    Warum traten diese Erscheinungen niemals zu Hause auf, in Gegenwart der anderen? Manchmal fragte sie sich, ob sie sich das Ganze möglicherweise nur eingebildet hatte. Mit dem heutigen, sorgfältig geplanten Vorhaben würde sie sich Gewissheit verschaffen.
    Sie streifte den Schulterriemen ab und stellte ihre Kamera genau an den Mauerrand. Sie richtete das Objektiv nach unten, auf das Ufer, so dass es eine gerade Linie mit dem Neigungswinkel der Mauer bildete, die sich zum Meer hinab erstreckte; dann machte sie die Kamera einsatzbereit. Der Mond warf ein Band aus silbernem Licht auf die Wellen. Sie stellte den Zeitmesser ein, jetzt war sie gerüstet.
    Sie sprang auf die Mauer, begann in Richtung Wasser zu gehen. Wo blieb er? Würde er heute Nacht kommen, der rothaarige Engel? Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren. Es herrschte Flut, das Wasser reichte fast bis zum Sockel des Deiches. Sie hörte die Wellen, spürte sie in ihrem Körper.
    In ihrer Familie war viel verlorengegangen. Sie hatten sich so nahe gestanden … Es war ein Geschenk des Himmels, Eltern zu haben, die sich so innig liebten. Bis Ballincastle, wo Regis im strömenden Regen ihrem Vater nachgelaufen war; er hatte sie beschützen wollen, und ein Kampf war entbrannt, bei dem ein Mensch ums Leben gekommen war – warum konnte ihre Mutter ihm das nicht verzeihen? Er hatte nur versucht, seine Tochter zu retten.
    Agnes fühlte sich innerlich zerrissen, weil ihre Familie zerrüttet war. Sie hatte Gott auf Knien angefleht, dafür zu sorgen, dass alles gut werden würde. Doch als ihre Gebete nicht erhört wurden – als ihr Vater ins Gefängnis musste und ihre Mutter aufhörte, ihn zu erwähnen oder Besuche zu planen –, hätte Agnes um ein Haar aufgegeben. Sie hatte Gott gesagt, sie könne nur dann ihren Glauben an ihn bewahren, wenn er ihr ein Zeichen schicke.
    Und er hatte ihr ein Zeichen geschickt, wieder und wieder, die Vision mit den Engelsschwingen. Nur Sisela und sie hatten diese Erscheinung

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