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Wie Sand in meinen Händen

Wie Sand in meinen Händen

Titel: Wie Sand in meinen Händen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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angefangen, wieder zu atmen!«, schrie Regis. Honor barg ihren Kopf an Agnes’ Gesicht, die Hand auf ihrem Mund, spürte den leisen Atem, hob ihre Augenlider an – sie war bewusstlos.
    »Honor.« John versuchte, sie in die Arme zu nehmen, wünschte sich mehr als alles in der Welt, sie nur in die Arme nehmen zu können.
    Doch sie hörte ihn nicht. Oder wollte nicht. Ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit galt ihrer Tochter – genau wie beim letzten Mal. Sie hatte ihn beiseitegestoßen, hasste ihn für etwas, was er nicht einmal verstand.
    Sechs Jahre in einer Gefängniszelle, und noch immer erinnerte er sich an dieses Gefühl, die Wut seiner Frau, die er mehr liebte als sein Leben, spürte ihre Verbitterung, wagte sich den Grund nicht einmal vorzustellen.
    »Ich wusste nicht, dass sie herkommt«, sagte er. »Ich sah sie erst, als sie ins Wasser sprang –«
    »Wir hatten keine Ahnung, dass du hier bist«, meinte Regis. »Warum hast du kein Wort gesagt?«
    Frag deine Mutter,
hätte er am liebsten geantwortet. Aber er schwieg – war wie gelähmt, blickte Honor an, sehnte sich danach, sie in die Arme zu schließen, wagte es aber nicht, sie zu berühren. Sie saß da und hielt Agnes in den Armen, war wie von einem unsichtbaren Schutzschild umgeben, einem undurchdringlichen Kraftfeld, das ihn auf Abstand hielt. Aber er blickte sie an. Das konnte sie ihm nicht verwehren.
    Er betrachtete die zarte Haut, die blauen Augen, die in Tränen schwammen, die feinen Linien um Mund und Augen, tiefer als vor sechs Jahren, doch ihr Gesicht schöner als jemals zuvor. Er betrachtete die langen Haare, von denen er oft geträumt hatte. Er sah, wie sie ihre Tochter in den Armen wiegte, und erinnerte sich, wie sie zu Regis an den Rand der Klippe geeilt war, als ihn die
Gardai
abgeführt hatten.
    Ihr letzter gemeinsamer Augenblick in Freiheit – am Meer. Und nun das. Was für eine Heimkehr, was für ein Wiedersehen mit Frau und Töchtern. Die salzige Luft brachte die Erinnerung an die Vergangenheit zurück, und Honors Blick zeigte ihm, wie sehr sie ihn verachtete. Plötzlich begann Agnes, am ganzen Körper krampfhaft zu zucken.
    »O Gott!«, rief Honor. »Wo bleibt die Ambulanz? Ich habe Cece gebeten, sie zu benachrichtigen!«
    »Mom, was ist mit ihr?«, schrie Regis. Sie kauerte sich nieder, schob sich zwischen ihre Eltern, versuchte, einen Arm um ihre Schwester zu legen.
    »Das ist ein epileptischer Anfall«, sagte Honor. Und an Agnes gewandt: »Halt durch, Schatz. Wir sind bei dir.«
    »Mom und ich«, sagte Regis. »Und Dad. Dad ist auch hier …«
    Johns Herz wurde schwer bei Regis’ Worten, die klangen, als wollte sie Agnes erzählen, dass allein seine Anwesenheit ihr zu helfen vermochte. Er sah Honor und Regis an, die panikerfüllt versuchten, Agnes festzuhalten. Ihr Körper war starr, das Gesicht verzerrt; plötzlich erschlaffte sie.
    »Es hat aufgehört«, rief Regis.
    »Atmet sie?« Honor hielt sie nun fest.
    »Oh Gott«, flüsterte John. »Mach, dass ihr Herz nicht stillsteht …«
    Er beugte sich zu seiner Tochter hinunter, spürte ihren warmen Atem an seinem Ohr. Schwach und unregelmäßig. Er nahm ihre Hand, die so kalt war wie das Meer. »Sie atmet.«
    »Wo bleibt Cece? Wo bleibt die Ambulanz? Regis, lauf hoch und schau nach, ja? Und sag Bernie Bescheid –, bat Honor.
    John schob die Arme unter Agnes’ Körper, wie einen Rechen im Sand, hob sie hoch und drückte sie an seine Brust. Honor rang nach Luft und stieß einen Schrei aus.
    »Komm, wir bringen sie mit deinem Auto in die Klinik.«
    »Beeil dich, John.« Honor rannte voraus.
    Seine Füße waren bleischwer in dem losen Sand. Er lief hinunter, näher zum Wasser, wo er mehr Halt hatte. Hier war der Boden wie Asphalt, hart, zusammengepresst von den Wellen. Zu seiner Linken lag der Sund im hellen Licht der Sterne, Gebirge von Wellen mit weißen Schaumkronen krachten gegen die Felsen. Die Augen voll salziger Gischt, versuchte er, gegen seine Angst anzukämpfen. Er drückte seine Tochter an sich, als könnte sein eigenes Herz sie wärmen und sie am Leben halten.
    Regis lief voraus, einen einsamen Strandweg entlang, den John und Honor oft als Kinder und später während ihrer Ehe gegangen waren, wenn sie die Mädchen bei Tom und Bernie gelassen hatten, um einmal alleine zu sein.
    Hier war es dunkel, aber Johns Füße kannten den Weg. Als Junge hatte er sämtliche Mauern, Bäume, Höhlen und unterirdischen Gänge in der Umgebung erforscht und seine grenzenlose Liebe zu

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